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Gil Shaham spielt Sarasate

Eines gleich vorweg: Wirklich große Musik gibt es dieses Mal nicht auf der neuen Platte. Wohl aber große Kunst. Der US-amerikanische Geiger Gil Shaham hat einem alten Kollegen, dem Spanier Pablo de Sarasate, ein ganzes Album gewidmet. Man ahnt nichts Gutes - wer schließlich kann so viel virtuoses Blendwerk, so viel Salonakrobatik schon an einem Stück aushalten? Doch dann legt man die CD ein, drückt auf "Start" - und schluckt die Kommentare, die einem schon auf der Zunge lagen, herunter: Mag Sarasate die Ohren sonst auch schnell ermüden: Wenn Shaham spielt, bleiben sie hellwach.

Von Raoul Mörchen |
    "Zapateado" für Violine und Klavier op. 23, Nr. 6 aus: a Danzas españolas, T.8

    "Es war ein Anblick eigener Art, das kleine Männchen mit echt spanischer Grandezza, äußerlich ruhig, ja phlegmatisch, das Podium beschreiten zu sehen, wie er nach einigen stereotypischen Bewegungen mit unerhörter Überlegenheit zu spielen begann und die Hörer in rascher Steigerung in Erstaunen, Bewunderung und höchstes Entzücken versetzte."

    Gemeint ist natürlich nicht Gil Shaham, der ist weder Spanier noch besonders klein geraten, gemeint ist - natürlich - Pablo de Sarasate. Der deutsche Geiger Carl Flesch beschreibt ihn mit diesen Worten in seinen Memoiren - und das will was heißen: Flesch, der in einem berühmt-berüchtigten Lehrwerk das Geigenspiel glaubte quasi verwissenschaftlichen zu können, hat an kaum einem Kollegen ein gutes Haar gelassen: die meisten spielten seiner Meinung nach schlampig, machten irgendetwas grundsätzlich verkehrt, hatten dieses oder jenes überhaupt nicht verstanden. Man spürt zwar, dass er auch an Sarasate gerne etwas aussetzen würde, aber in puncto Technik ist da einfach nichts zu machen: "Sarasate hat uns beigebracht, richtig zu spielen" zitiert Flesch einen Ausspruch des Geigers Eugène Ysaÿe und kann dem nur beipflichten: der kleine große Pablo de Sarasate war das Maß der Dinge. An ihm musste sich messen, wer zu seiner Zeit, im späten 19. Jahrhundert, bestehen wollte. An ihm muss sich aber auch messen, wer nach ihm bestehen will: vor allem, wenn er oder sie jene Werke in Angriff nimmt, die sich Sarasate selbst auf den Leib geschrieben hat, Werke wie die berühmte Fantasie über Themen von Bizets Oper "Carmen":

    1. Satz aus der Carmen-Fantasie nach Motiven aus der Oper 'Carmen'
    von Georges Bizet für Violine und Klavier, op. 25


    Wenige Jahre vor seinem Tod 1908 hat Sarasate einige Grammofonaufnahmen gemacht, im Alter von sechzig Jahren: sie geben nur ein trübes Bild von dem, wie er einst, in seiner besten Zeit, gespielt haben muss: ein wenig so wie Gil Shaham, dürfen wir vermuten. Technische Makellosigkeit ist das eine. Als Erkennungszeichen wäre es jedoch zu wenig. Viele Geiger spielen heute nahe an der Perfektion: Was im 19.Jahrhundert eine Ausnahme war, ist längst ein Standard. Etwas anderes nötigt zum Vergleich Sarasate-Shaham: Es ist die von Carl Flesch und vielen anderen bezeugte Leichtigkeit, Mühelosigkeit des Spiels und die Eleganz eines Tons, der frei war von aller Rauheit. Dass eine Geige nur klingt, weil auf ihren Saiten ein mit Harz bestrichener Bogen reibt: bei Sarasate war davon nichts mehr zu hören - und auch Gil Shaham scheint solche Naturgesetze leichter Hand außer Kraft zu setzen.

    Schluss aus der Carmen-Fantasie nach Motiven aus der Oper 'Carmen'
    von Georges Bizet für Violine und Klavier, op. 25


    Es ist wirklich ein Kunststück, ein Werk wie die Carmen-Fantasie so zu spielen wie Gil Shaham - so, dass es authentisch klingt und doch nicht peinlich, dass es funkelt, aber nicht blendet: Denn natürlich ist die Uhr für solche Musik eigentlich schon lang abgelaufen.

    Als Sarasate lebte, spielten die sogenannten Großen Geiger kaum etwas anderes als solche gehobene Unterhaltung: man wollte den eigenen Ruhm schließlich nicht mit dem eines Komponisten teilen. Sarasate ist legendär gewesen für diesen Geist: Orchestertutti in Konzerten, meinte er einmal, seien "nur dazu da, um dem Solisten Gelegenheit zum Ausruhen und dem Publikum das Zeichen zum Applaus zu geben". Das Violinkonzert von Brahms weigerte er sich aufzuführen, weil er nicht untätig danebenstehen wollte, wenn im zweiten Satz die Oboe die seiner Meinung nach einzig vernünftige Melodie des ganzen Stücks spielt. Carl Flesch nannte in seiner unnachahmlich direkten Art Sarasate einen "in intellektueller Hinsicht Minderbesteuerten". Anspruchsvollere Musik habe er schlichtweg nicht verstanden.

    Mag sein, dass Neid aus solcher Unterstellung spricht. Sarasates eigene Werke jedenfalls sind schon zur Entstehungszeit weit von wirklichem kompositorischen Ehrgeiz entfernt: Die meisten variieren spanische Volksmusik, Lieder und Opernarien, und zwar so, dass der Solist möglichst gut dabei wegkommt.

    Gil Shaham hat damit keine Probleme. Auch Shaham ist etwas über der Zeit: trotz seines Alters, 38, kein moderner Multi-Stilist, keiner, der auch mal mit dem Barockbogen experimentiert oder mit zeitgenössischer Musik, die den Namen verdiente. Shaham ist ganz alte Schule - doch in dieser Schule ist er ein echter Primus.

    aus: Gavota de Mignon, op. 16

    Gil Shahams Schnelligkeit und Schlackenfreiheit, die Leichtigkeit und Eleganz seiner Bewegungen, die blitzsaubere Intonation erinnert an Jascha Heifetz und an eben das, was über Sarasate berichtet wird. Sehr eigen aber ist Shahams weiter dynamischer, ja emotionaler Aktionsradius: laut und leise bei ihm sind lauter und leiser als man es meist gewohnt ist, seine Flageoletts sind absolut gravitationsfrei, immateriell der Ton im pianissimo, und wenn auch sein Forte nie kratzt oder aggressiv klingt, so hat es doch ein ganz entschieden schweres Gewicht:

    aus: Habanera, op. 26 Nr. 2

    Wer an der Seite eines solchen Geigers selbst Geige spielen muss, ist nicht zu beneiden: So tut einem Adele Anthony schon ein wenig leid - sie hat Gil Shaham sogar geheiratet und löst nun im Sarasate-Album ihren Mann als Solistin hin und wieder ab. Adele Anthony macht ihre Sache sogar gut, doch gut - diese Phrase sei verziehen - ist hier nicht gut genug. Auch der Rest der Mannschaft verblasst wie selbstverständlich in Shahams Schatten: die tüchtige Begleiterin Akira Eguchi am Flügel und auch das Orquesta Sinfónica de Castilla y León unter der Leitung von Alejandro Posada. Ihnen allerdings hat Sarasate eh nur eine Statistenrolle zugedacht. Das Universum des Spaniers kannte nur ein Zentrum: Darin stand er selbst, Pablo de Sarasate, und darin steht nun Gil Shaham.
    aus: Romanza Andaluza, op. 22 Nr. 1

    Gil Shaham spielt Werke von Pablo de Sarasate - unterstützt von seiner Frau, der Geigerin Adele Anthony, der Pianistin Akira Eguchi und dem Sinfonieorchester von Kastilien und Leon unter der Leitung von Alejandro Posada. Seine Hommage an den spanischen Kollegen hat Shaham im eigenen Label Canary Classics veröffentlicht.

    Sarasate: Virtuoso Violin Works
    Gil Shaham, Violine
    mit
    Adele Anthony, Violine
    Akira Eguchi, Klavier
    Orquesta Sinfónica de Castilla y León

    Canary Classics CC 07 (Vertrieb: Naxos)