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Gilles Kepel: Zwischen Kairo und Kabul - Eine Orient-Reise in Zeiten des Dschihad

Mitten in der Nacht hämmerte es an der Tür: Ungefähr 50 Soldaten stürmten unser Haus und rissen mich aus meinem Traum. ... Sie weckten mich mit Ohrfeigen. War dies ein neuer Albtraum: Sie schrieen mich an, ich solle aufstehen und mich anziehen. Sofort! Mittlerweile waren auch mein Vater und meine Geschwister aus ihrem seligen Schlaf gerissen worden. Hilflosigkeit war in ihren Gesichtern zu erkennen. Was hätten sie auch machen sollen angesichts der Überzahl der israelischen Soldaten, die sich in unser Haus drängten und jeden Schrank, jede Matratze, jede Tasse, im Grund alles, was sie fanden, durchsuchten. Ich fügte mich ihren Anordnungen, denn ich wollte nicht, dass der Rest meiner Familie in Mitleidenschaft gezogen würde. Als ich angezogen war, fesselten sie meine Hände mit Plastikschnüren und verbanden mir die Augen. Dann führten sie mich vor das Haus. Sie begannen auf mich einzuschlagen. Wie viele von ihnen es waren, weiß ich nicht. Zuerst ohrfeigten sie mich. Wieder und wieder. Plötzlich bekam ich zwei unmittelbar hintereinander folgende Faustschläge mitten ins Gesicht. Ich spürte, dass meine Lippen aufgeplatzt waren und meine Nase blutete. Das Blut rann in meinen Mund. Zwischendrin schrieen sie mich an. Ich wäre ein dreckiger Araber. Ich hätte sie mit Steinen beworfen. Sie wüssten, wer ich sei und dass ich mich nun auf etwas gefasst machen könnte. ... Mein Gesicht war taub vor Schmerz. Ich versuchte es mit meinen zusammengebundenen Händen zu verdecken, um nicht noch weitere Schläge auf die ohnehin schon wunden Stellen zu erhalten, und sank dabei auf die Knie. Ohne Unterlass schlugen sie weiter. Mit ihren Ellbogen auf meinen Kopf. Dann mit dem Gewehrkolben in die Magengegend. Ich rang nach Luft und fiel vorne über mit dem blutigen Gesicht auf den dreckigen Booden. Sie schlugen weiter und weiter. ... Ich versuchte die Schmerzen und die Hiebe zu ertragen. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Auch ich fing an zu schreien. Ich flehte sie an aufzuhören. Ich rief nach Allah, um ihnen Einhalt zu gebieten. Ich konnte meinen Körper nicht sehen. Aber ich spürte, dass er mit Blutergüssen übersät sein musste. Alles tat mir unendlich weh. Ich fürchtete, dass im nächsten Augenblick mein Kopf aufspringen und das Blut heraussprudeln würde. Dann rissen sie mich an den Haaren hoch und brachten mich zu ihren Fahrzeugen. Dort warteten bereits andere Jugendliche auf ihren Abtransport. Ich konnte ihr Jammern hören. Wir alle wurden gezwungen, uns auf den Boden des Wagens zu legen. Unsere Körper dienten den Soldaten als Fußstützen. Während der Fahrt schlug bei jeder Unebenheit der Fahrbahn - der Jeep fuhr in rasend schnellem Tempo - mein Kopf mit aller Wucht auf dem Boden auf. Ich fragte mich, wie viel ein Mensch noch ertragen könnte?

Christoph Burgmer |
    "Wie werde ich ein Selbstmordattentäter oder Szenen aus einem besetzten Land", so könnte man diesen Auszug aus dem Buch "Der Tod ist ein Geschenk" überschreiben. Erzählt wird die Begebenheit von einem jungen Palästinenser, Said genannt. Zum Zeitpunkt dieser Festnahme war der junge Mann gerade 17 Jahre alt. Neun Jahre zuvor war er mit seiner Familie vom selbst bewirtschafteten Land durch jüdische Siedler vertrieben worden, lebte seither im Flüchtlingslager Dschenin im Westjordanland. Nach der Verhaftung kommt er in ein Lager der Israelis, wird schwer gefoltert und gezwungen, ein Geständnis zu unterschreiben, das ihn als Steinewerfer und Graffitisprüher für Jahre hinter Gitter bringt. Wieder In Freiheit, werden alle Hoffnungen auf Frieden zerstört. Die Aussichtlosigkeit der Lage unter dem Besatzungsregime treibt Said in die Arme der bewaffneten heiligen Krieger, er will ein Selbstmordattentäter werden, ein Märtyrer und Held. Bevor er losgeschickt werden kann, stirbt er im Kugelhagel einer israelischen Attacke auf Dschenin, nur 29 Jahre alt. Die Gespräche mit Said hat Raid Sabbah aufgezeichnet. Er ist Journalist und Dokumentarfilmer, in Koblenz geboren, seine Eltern sind Palästinenser aus Dschenin. Es ist wohl das erste Mal, dass ein potentieller Selbstmordattentäter jenseits der Propaganda-Videos islamistischer Organisationen sich äußert und so detailliert schildert, was er erlebt hat und welche persönlichen Schlüsse er daraus zieht. "Der Tod ist ein Geschen. Die Geschichte eines Selbstmordattentäters" ist im Droemer Verlag erschienen, hat 253 Seiten und kostet 18 Euro.

    Was weiß man bisher im Westen eigentlich darüber, wie die Menschen im Orient über palästinensische Attentäter wie Said denken? Was halten sie von Osama bin Laden und seiner Politik des Terrors? Was versprechen sie sich vom Islamismus? Der französische Arabist und Soziologe Gilles Kepel, Autor des Schwarzbuchs des Dschihad, hat nach der mörderischen Attacke auf die Menschen im World Trade Center 2001 seine Vorlesungen in Paris so gelegt, dass er jede Woche in den Orient reisen konnte, um auf eben diese Fragen eine Antwort zu suchen. Kepel, der lange im Orient gelebt und studiert hat, wollte jetzt, wo Kreuzzug und Dschihad wieder aktuelles Vokabular geworden sind, in Kairo, Beirut, Damaskus, Dubai, Katar, Abu Dhabi und Kabul herausfinden, was Menschen dort über die Rolle des Islam in der Politik, über ihre Politiker denken und wie sie ihr Verhältnis zum Westen bestimmen.

    Hören Sie, meine Herren, ich sage es Ihnen ohne Häme, dieser kleine Reisebericht wurde zu Ihrer Belehrung und Erbauung geschrieben.

    Schreibt Gilles Kepel. Der französische Soziologe und Arabist für Politische Studien am Institut d’Etudes Politique in Paris meint mit den "Herren" jene Journalisten und Meinungsmacher in der arabischen Welt, die nach dem 11. September 2001 gegen die politischen Analysen der Orientalisten wetterten. "Albernes Geschwätz" und "Hochstapelei" nennt Kepel dies. Auch für einen großen Teil westlicher sogenannter "Experten des Islam" könnte diese Einschätzung gelten. Ihnen allen seien die Reiseskizzen Kepels ans Herz gelegt. Denn wer die rituellen Regeln des Islam kennt, der muss noch lange nichts von den politischen und sozialen Bedingungen in der arabischen Welt verstehen. Und wer die Folgeereignisse des 11. September von Ägypten bis Afghanistan auf religiöse Motive reduziert, der muss sich vorwerfen lassen, sich argumentativ in unheiliger Allianz mit radikalen Islamisten zu befinden. Der Koran, nach dem 11. September in deutschen Buchläden ausverkauft, enthält eben keinerlei Erklärungen für die Terroranschläge. Auch wenn sie Gilles Kepel nicht a prima vista liefert, so verweigert sich sein Denken wenigstens nicht gegenüber der sozialen und politischen Realität in arabischen Ländern - die unterschiedlicher nicht sein könnte: in Ägypten, Libanon, Syrien und den Ländern der Arabischen Halbinsel.

    Wir haben es nicht mit einem Krieg der Kulturen zu tun, sondern mit einem komplexen Konflikt innerhalb von Kulturen, die sich wechselseitig durchdringen und die dazu verdammt sind, miteinander im Gespräch zu bleiben, was auch immer die Islamisten auf der einen Seite und die extremen Rechten auf der anderen Seite behaupten mögen. Die Islamisten sind weder das Ende der Geschichte der muslimischen Gesellschaften noch ihre Vollendung.

    Im Oktober und November 2001 ist der Krieg der Anti-Terror-Allianz gegen die Taliban auf seinem Höhepunkt. Mittwochs und donnerstags hält Kepel seine Vorlesungen in Paris an der Universität, den anderen Teil der Woche verbringt er im Orient. Er hält Vorträge, bestreitet Lehrveranstaltungen, interviewt einflussreiche islamische Geistliche und Intellektuelle, trifft Freunde und Bekannte. Momentaufnahmen, Reaktionen und Einschätzungen der Situation, Wünsche und Hoffnungen Einzelner, die, so erscheint es dem Leser, immer exemplarisch für einen bestimmten Teil der arabischen Gesellschaft sprechen. Der westliche Gelehrte ist Seismograph, ausgestattet mit perfekten Sprachkenntnissen und einer fast dreißigjährigen Erfahrung in der Beobachtung und Analyse der gesellschaftlichen Realität verschiedenster arabischer Länder. Er verzeichnet die emotionalen und intellektuellen Ausschläge, die der Aufstieg und Fall bin Ladens auslösten, beschreibt wie nebenbei, versehen mit einer Portion Selbstkritik, die den aktuellen Ereignissen unterliegenden sozialen Veränderungen der vergangenen 30 Jahre. Nichts ist immer gleich, und die beschleunigte Dynamik der aktuellen Kriegsereignisse erzwingt die Erkenntnis, dass Bin Laden kein Che Guevara der arabischen Welt ist.

    Sonntag, 25. November. An der Universität von Kairo treffe ich die Studenten wieder, mit denen ich nach dem Fall von Kabul debattiert habe. Bin Ladens Sympathiewerte sind ins Bodenlose gestürzt, sogar bei den jungen Damen in Jeans, die ihn so hinreißend gefunden haben. Wehe den Besiegten!

    Zurück also in den Alltag voller sozialer Verwerfungen, politischer Unterdrückung und individueller Überlebensstrategien ohne Hoffnung auf Veränderung. Den Reiseskizzen Kepels ist dieser Alltag von Beginn an unterlegt. Gegen die Hoffnungslosigkeit, so seine These, machte eine Generation politisch mobil, radikalisierte sich unter islamistischer Führung. Unter dem Schlachtruf "Der Islam ist die Lösung" wurde ein Vierteljahrhundert der Weg in den politischen Terror beschritten. Aus militanter Opposition gegen Diktatoren wie Anwar al Sadat, von breiten Bevölkerungskreisen stillschweigend gutgeheißen, entwickelte sich jedoch der Terror gegen jede Form nicht radikal islamischer Bestrebungen. Aus den Antiimperialisten der 70er wurden die Selbstmordattentäter, aus den regionalen Widerstandsgruppen die von antisemitischer und antiwestlicher Ideologie begeisterten international operierenden Märtyrer. Kepels immer wieder eingeflochtene persönliche Erinnerungen an Begegnungen mit Menschen in arabischen Ländern zeichnen diese Entwicklung und ihr Scheitern nach. Er bedarf keiner langen wissenschaftlichen Analysen, um auch dem Laien deutlich werden zu lassen, dass inzwischen das Band zwischen den arabischen Gesellschaften und dem militanten islamisch begründeten Extremismus spätestens nach dem Untergang Bin Ladens endgültig zerrissen ist. Das nimmt den Selbstmordattentaten nicht ihre schreckliche Realität, entzieht ihnen jedoch jede politische Wirksamkeit, außer derjenigen, dass die islamische Welt dadurch "noch tiefer in die Niederlage, den Hass und das Unglück" geführt wird. Auch wenn es Kepel nicht explizit ausführt, für den Soziologen und Arabisten ist die Loslösung aus der ideologischen Umklammerung des Islamismus, trotz der Gewissheit über die kontinuierliche Fortschreibung sozialer und politischer Unterdrückung in arabischen Ländern, ein Anzeichen für Hoffnung.

    Die Bilder vom Freudentaumel der Muslime in Kabul nach der Befreiung von den Taliban, die Wut der Afghanen auf die arabischen Kämpfer, erklärt mir Montasser al-Zayyat, seien schrecklich, sie würden eine schwere Erschütterung zur Folge haben. Ich denke zuerst, er spricht nur von den militanten Anhängern des Dschihad, aber er korrigiert mich: Die gesamte islamistische Bewegung sei betroffen.

    Kepels Reiseskizzen sind weit informativer als die meisten Analysen zu Fragen der Politik und Gesellschaft der arabischen Welt. Nicht nur, weil er sich längst vor dem 11. September mit dem politischen Islam auseinandergesetzt hat, oder weil er im Gegensatz zu manchem Experten immer wieder die arabischen Länder bereist. Vor allem deshalb, weil seine Begegnungen und Gespräche vor Ort die Menschen nicht zu Objekten von westlichen Vorteilen und Überzeugungen degradieren und es ihm dabei gelingt, gesellschaftliche Entwicklungen begreifbar zu machen.

    Gilles Kepel, Zwischen Kairo und Kabul. Eine Orientreise in Zeiten des Dschihad, übersetzt von Ursel Schäfer. Erschienen ist das Taschenbuch im Piper Verlag, es hat 158 Seiten und kostet 12 Euro.