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Gisela Schirmer (Hg.): Willi Sitte. Farben und Folgen

Wie kaum einem anderen bildenden Künstler der DDR hängt dem heute 82-jährigen Sitte noch immer das Verdikt des "Staatskünstlers" an, war er doch von 1974 bis 1988 Präsident des Verbandes Bildender Künstler, ab 1976 Volkskammerabgeordneter und in den letzten Jahren der DDR Mitglied des ZK der SED. Und wie bei allen führenden Funktionären des DDR-Kulturbetriebes - man denke zum Beispiel an Hermann Kant - ist es auch bei Sitte äußerst schwer zu beurteilen, ob er seinen Berufskollegen eher genützt oder geschadet hat.

Von Jacqueline Boysen |
    "Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt", kalauerte es zum Ende der DDR. Als das offizielle Klischee vom vermeintlich besseren sozialistischen deutschen Staat von dessen aufgebrachten und enttäuschten Bürgern demontiert wurde, setzte auch ein revolutionärer Bildersturm ein: vom Sockel geworfen wurde, wer den Mächtigen nahe war, von den Wänden gerissen die Werke der Staatskünstler. Unbestritten: Willi Sitte war einer von ihnen.

    Der Begriff Verstrickung, den find ich so widerwärtig, ich muss sagen, ich bin immer noch damals der gleiche gewesen wie heute, ich begreife nicht, dass man heute Leichen in meiner Biographie sucht.

    Der zweifellos talentierte Maler, Jahrgang 1921, der lange selbst den Demütigungen der zumeist wenig kunstverständigen, prüden und phantasielosen Funktionäre ausgesetzt war, hat künstlerisch wie politisch einen Weg zwischen Aufbegehren und Anpassung zurückgelegt, der nahezu idealtypisch ist: vom Landarbeiterkind zum ZK-Mitglied. Die Kunsthistorikerin Gisela Schirmer hat zahlreiche ausführliche Gespräche mit dem verdienten Nationalpreisträger geführt und in seinem Namen die Lebensgeschichte – irreführenderweise – als Autobiographie zu Papier gebracht. Sie zeigt den mächtigen Präsidenten des Verbands Bildender Künstler der DDR als einen mit sich und seinem Anspruch ringenden Künstler und zugleich als ideologisch gefestigten, parteilichen Staatsdiener.

    Ich hatte einen guten Staat im Sinn, dazu wollte ich mit meiner Arbeit beitragen.

    Der vom Zeichnen besessene Autodidakt, der sich im faschistischen Italien den Partisanen anschließt, aus seiner nordböhmischen Heimat in die Sowjetische Besatzungszone umsiedeln muss, der Meisterschüler und Lehrer, dessen Werke den Erwartungen seiner Partei zunächst keineswegs gerecht werden, da er den schlichten Vorstellungen der SED von Kunst eigenes entgegenzusetzen versucht, überwindet eine persönliche Lebenskrise und die Anfeindungen der Kulturpolitiker, die seine Werke mit dem Formalismus-Verdikt belegen.

    Ich bin ja Autodidakt, habe erst in SBZ gemalt, habe nur gezeichnet, Alte Meister studiert, gezeichnet, mir ein akademisches Vokabular bildkünstlerisch angeeignet und nach dem Krieg gemerkt, dass es zur Darstellung meiner ungeheuren Erlebnisse nicht ausreicht. Da war es für mich eine große Entdeckung, Picasso, Leger, Beckmann, da hab ich mich bemüht, das nicht loszuwerden, das hat natürlich Unbehagen ausgelöst. Das, was man da wollte, hatte schon Ähnlichkeit mit der sowjetischen Kunst und mit der Kunst, die zur Nazizeit gemacht wurde. Das war mir zu bieder, so habe ich mir meine künstlerische Entwicklung nicht vorgestellt.

    Sittes Beziehung zum späteren Vorsitzenden des Ministerrats Horst Sindermann spielt eine entscheidende Rolle, als es um Kopf und Kragen geht: Die Herrschaftsmechanismen von Kritik und Selbstkritik treffen alle, die sich dem allmächtigen Alfred Kurella und seinen simplen Vorstellungen vom Sozialistischen Realismus und einer "DDR-Nationalkultur" entgegenstellen. Sitte macht die Erfahrung, dass die Partei streicheln oder strafen kann. Er entschließt sich, "die Kröte zu schlucken", und so erklimmt schließlich die "Viererbande" – Sitte gemeinsam mit Bernhard Heisig, Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer – den Olymp realsozialistischen Kunstschaffens. Des Malers opulente gegenständliche Malattitude wird zum Spiegel seiner Ankunft in der Kunstelite der DDR – bis der Held der Arbeit vom Lauf der Geschichte zu Fall gebracht wird, der Bildersturm seine Werke davon weht und er nach bewährtem Muster seine Zusammenarbeit mit dem Apparat der Staatssicherheit leugnet. Wenn der einstige Nationalpreisträger im Schlusskapitel erzählt, wie ihn jüngst eine Seniorenlesereise des Neuen Deutschland wieder nach Italien führte, wo er als junger Deserteur Verbindungsmann zum kommunistischen Widerstand war, dann wird auch das Tragische einer Lebensgeschichte wie der des hochdekorierten Präsidenten des Verbands Bildender Künstler deutlich.

    Ich wäre niemals in diese Funktion gewählt worden, wenn es keine Übereinstimmung mit meiner Tätigkeit an der Hochschule, als Künstler und im Verband gegeben hätte. Das war immer reziprok. Ich habe mich halt immer eingemischt und denke, oft auch mit Erfolg.


    Wille Sitte beschreibt seine Werke leider nur in knappen Worten, dafür aber berichtet er darüber, wie er kraft seiner Autorität für geplagte Winzer, Bauern, Arbeiter, zerfallende Kulturdenkmäler und natürlich den Verband außerplanmäßige Zuwendung organisiert und sich – wie er sagt – einmischt. Zum Beispiel in den Schulunterricht eines Sohnes:

    Volkmar hielt sich als kleiner Junge ... ständig in meinem Atelier auf. ... Er malte oder zeichnete ... In ihrer kindlichen Naivität haben mich seine Sachen oft angeregt. Seine Flugzeuge, die während meiner ersten Arbeiten zur "Thälmannbrigade" entstanden, fand ich so hinreißend, dass ich sie übernommen habe. Meine Freunde ... sagten: "Du musst aufpassen, das ist ein Wunderknabe." Doch als er in die Schule kam, begann das Drama. Er bekam im Zeichnen schlechte Zensuren, und als ich mir zeigen ließ, was er im Unterricht gemacht hatte, zog es mir nicht nur die Schuhe, ... sondern alles aus. Eine Aufgabe hatte darin bestanden, ein Rechenheft zu zeichnen – die Kinder sollten lernen, mit Lineal und Zirkel akkurat umzugehen! Ich versuchte, mit den Lehrern zu diskutieren, aber ich konnte nichts bewegen, sondern fiel nur unangenehm auf. Sie beriefen sich auf Vorschriften, die sie von oben bekommen hätten.

    Wenn Sitte den in der Stadt Halle schildert, Bemerkungen über die "überzogene Militarisierung unseres gesellschaftlichen Lebens", über die Hochschule Burg Giebichenstein oder auch ZK und Volkskammer macht, dann wird die alte DDR lebendig – allerdings ist diese DDR in einer speziellen Farbe gezeichnet: Der privilegierte Vorzeige-Künstler, dessen gegenständliche Werke im Westen gewissermaßen als Komplementär zu den Abstrakten Anklang fanden, durfte als Devisenbringer selbstverständlich auch ins nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet reisen, sogar mit Gemahlin! Dass sie Ferien in Ahrenshoop machten und was DDR-Luxus mehr war, sei ihnen gegönnt. Die eingeschränkte Sicht des von der Partei Alimentierten aber pflegt er leider bis heute, so dass er Kunstströmungen innerhalb der DDR, die abseits der offiziellen Linie liegen, verdammt. Deren Existenz und zum Teil hohe Qualität heute zu ignorieren und die von ausgegrenzten Künstlern gebrachten Opfer nicht zu würdigen, ist schändlich und mit dem hohen Alter des einst für Wohl und Wehe vieler Künstler verantwortlichen Verbandspräsidenten nicht zu entschuldigen. Aber Willi Sitte legt in seiner Autobiographie nicht Rechenschaft ab, sondern er verteidigt sich. Und dies in einer politisch rückwärtsgewandten, naiven Weise.

    Die Autorin der quasi-autobiographischen Erinnerungen von Sitte berichtet, der Maler habe in vielen Gesprächen offen aus seinem Leben erzählt, weil sie so unvoreingenommen gefragt habe – leider verzichtet die westdeutsche Kunsthistorikerin darauf, das Erzählte einzuordnen. Und geradezu geschmacklos mutet es an, wenn sie ihr ausführliches Nachwort mit einem Zitat eines IM schließt – hatte sie doch gerade erörtert, dass die Wahrhaftigkeit der Aussagen der Stasi-Akten grundsätzlich in Frage steht. Dass sie dann wiederum das Kürzel IM nicht einmal korrekt aufzulösen vermag oder die Bayerische zu einer Münchener Akademie macht und was dergleichen Flüchtigkeiten mehr sind, das müsste wahrlich nicht sein. Dennoch: Wenn der Staatskünstler beschreibt, wie er in den 70er Jahren "ohne Dogmenenge" in seinem Verband Prinzipien der Selbstverwaltung" durchsetzen konnte, wenn er über "Filz und Fett und Neon" in der dekadenten Kunst im Westen schimpft oder von Begegnungen mit überheblichen Westdeutschen Auftraggebern berichtet, dann erfüllt sich, was Brecht 1938 bemerkte: "Dass die Wahrheit auf viele Arten verschwiegen und auf viele Arten gesagt werden kann."