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GKV zu Risiken bei neuen Medizinprodukten
„Wir sind immer wieder von der Politik enttäuscht worden“

Es sei unglaublich, dass in Deutschland Medizinprodukte wie Herzschrittmacher ohne klinische Prüfung eingesetzt würden, sagte Florian Lanz vom GKV-Spitzenverband im Dlf. 2020 solle sich das endlich ändern. Doch die Medizinprodukte-Lobby sei schon wieder aktiv, um die neue EU-Richtlinie für mehr Patientensicherheit zu verschieben.

Florian Lanz im Gespräch mit Birgid Becker | 26.11.2018
    Röntgenaufnahme eines Patienten mit einem Herzschrittmacher
    Röntgenaufnahme eines Patienten mit einem Herzschrittmacher: Trotz Skandalen mit künstlichen Herzklappen oder schadhaften Brustimplantaten gibt es keine Verpflichtung für Hersteller, die Wirkung klinisch nachzuweisen (imago / Science Photo Library)
    Birgid Becker: Mitgehört hat Florian Lanz vom GKV-Spitzenverband. Guten Tag.
    Florian Lanz: Schönen guten Tag, Frau Becker.
    Becker: Herr Lanz, eine erste Skandalwelle bei Medizinprodukten gab es, als es um platzende Brustimplantate ging. Das endete tatsächlich in Frankreich mit Zahlungen an geschädigte Patientinnen und mit einem juristisch haftbar gemachten Firmenchef. Die Recherche jetzt, die betrifft, anders als das bei den Implantaten der Fall ist, Medizinprodukte, für deren Einsatz die gesetzlichen Krankenkassen zahlen. Deshalb die Frage an Sie: Fühlen sich die Krankenkassen angesprochen? Mängel bei Medizinprodukten, geht das die Krankenkassen an?
    Lanz: Wir fühlen uns nicht nur angesprochen, sondern wir haben das Thema seit vielen Jahren immer wieder aktiv angesprochen. Denn das, was wir hier in Deutschland erleben, ist eigentlich unglaublich. Wir leben in einem Land mit so vielen Regeln, mit so vielen Zulassungen und Prüfungen und kaum jemand käme auf die Idee, dass es für Herzschrittmacher, für künstliche Hüftgelenke gar keine richtige Kontrolle gibt. Und das Thema ist ja schon alt. Wenn man sich überlegt: Mitte der 90er-Jahre hatten wir den Skandal mit künstlichen Herzklappen. Dinge, Materialien, die in den menschlichen Körper eingepflanzt werden, begleiten uns seit vielen, vielen Jahren, und zwar leider häufig mit einem Beigeschmack von Skandal.
    Klinische Studien "nicht mal die Regel"
    Becker: Es gibt ja in dem ganzen Problembereich wohl zwei Kernprobleme. Eines davon ist ein unzulängliches Meldesystem; das andere Problem ist, dass Medizinprodukte nicht so ein strenges Zulassungsverfahren durchlaufen müssen wie Arzneimittel. Für die Zulassung ist keine Behörde zuständig, sondern nur eine - so heißt das - benannte Stelle. Das können TÜV und Dekra sein, die kennt man vom Auto; das können aber auch weithin unbekannte Firmen sein, die schon mal damit werben, dass es bei ihnen auf jeden Fall einen Stempel gibt. Ist das plausibel?
    Lanz: Das ist tatsächlich ein wesentlicher Teil des Problems, dass es zum Geschäftsmodell der benannten Stellen gehört, dass jemand zu ihnen kommt, etwas "zugelassen" bekommen möchte und, wenn er das leicht bekommt, dann auch gerne jeder bekommt. Deswegen sind die benannten Stellen schwierig.
    Wir sind jetzt aber trotzdem froh, dass es bei den benannten Stellen auf europäischer Ebene künftig strengere Regeln gibt. Sie werden nicht mehr so einfach benannte Stellen sein können. Und, was ganz, ganz wichtig ist: Künftig wird es auch auf europäischer Ebene so sein, dass zumindest Studien vorliegen müssen, wissenschaftliche Nachweise, dass etwas tatsächlich wirkt. Denn selbst das ist ja heute noch nicht mal die Regel.
    "Endlich Fortschritt für mehr Patientensicherheit"
    Becker: Sie sprechen die Richtlinie an, die das Europäische Parlament 2017 beschlossen hat. 2020 tritt die Richtlinie in Kraft. Verbessert das denn wirklich die Lage? Sind dann solche Fälle von Patientenschädigungen, wie die jetzt in der Recherche genannten, noch möglich?
    Lanz: Es wird dann nahezu unmöglich sein, dass Medizinprodukte ohne klinische Prüfung, wie es so schön heißt, in den Verkehr gebracht werden. Das ist zwar immer noch keine Zulassung, wie wir sie eigentlich idealerweise gerne hätten, vergleichbar mit Arzneimitteln, aber es ist zumindest ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zu der heutigen Situation.
    Lassen Sie mich das vielleicht noch anfügen: Wir erleben gerade, dass die Medizinprodukte-Lobby schon wieder aktiv ist und versucht, das Inkrafttreten dieser Regel von Mai 2020 zu verschieben. Deswegen ist es so wichtig und deswegen sind wir so froh, dass gerade jetzt die Journalistinnen und Journalisten mit diesem Thema an die Öffentlichkeit gegangen sind. Denn es gibt endlich einen Fortschritt für mehr Patientensicherheit, und schon ist die Lobby wieder dabei, das anzugreifen, und da können wir nur an die Politik appellieren, gerade auf europäischer Ebene, jetzt wirklich standhaft zu bleiben und dafür zu sorgen, dass das nicht schon wieder herausgezögert wird.
    Endo-Prothesenregister soll 2021 kommen
    Becker: Jens Spahn, der Gesundheitsminister hat reagiert auf diese Recherche und lässt, ausweislich eines Zeitungsinterviews, morgen sagen, dass eine industrieunabhängige Stelle aufgebaut werden soll, bei der alle eingesetzten Implantate gemeldet werden müssen. Gute Idee?
    Lanz: Das Endo-Prothesenregister soll 2021 kommen. Dann wird man endlich nachvollziehen können, wer hat tatsächlich was bekommen. Denn wir haben heute ein ganz praktisches Beispiel und wir haben es jüngst erlebt bei dem Thema der schadhaften Brustimplantate. Da wusste niemand, welche Frauen haben eigentlich diese schadhaften Brustimplantate bekommen. Das heißt, Sie haben in der Zeitung gelesen als betroffene Frau, beispielsweise nach einer Brustkrebs-Operation, da ist etwas eingebaut worden mit giftigem Öl, was ich jetzt möglicherweise in meiner Brust habe, aber sie wussten gar nicht, wen können sie denn fragen, ob sie überhaupt betroffen sind. Denn wer weiß denn schon, was für ein Medizinprodukt von welchem Hersteller welcher Chirurg, welche Chirurgin Ihnen eingebaut hat. Künftig wird es zumindest so sein, dass man nachvollziehen kann, eine bestimmte Charge, ein bestimmtes Medizinprodukt hat sich als gefährlich herausgestellt. Dann ist nachvollziehbar, wer hat das denn einoperiert bekommen. Dann kann man das zum einen schneller und problemloser herausholen. Umgekehrt kann man dann aber auch bei Schadensmeldungen viel besser nachvollziehen: Ich habe eine Meldung, ich habe eine Patientin, einen Patienten, die hat ein Problem, dann kann ich das leichter zurückverfolgen, was für ein Medizinprodukt von welcher Firma wurde denn einoperiert, um dann daraus bessere Rückschlüsse ziehen zu können, wo sind die Gefährdungen, wo sind die Probleme.
    Industrie-Interesse über dem Patienten-Interesse?
    Becker: Endo-Prothesenregister, das Sie angesprochen haben, ist aber keine so neue Idee. Das ist im Aufbau, sollte auch schon längst vorangeschritten sein. Woran liegt es eigentlich, dass solche Projekte so lange dauern? Hätten da nicht auch die Krankenkassen mehr tun können, um das schneller anzuschieben?
    Lanz: Wir werben seit Jahren intensiv dafür und wir sind immer wieder von der Politik enttäuscht worden. Immer wieder haben wir den Eindruck, dass am Ende das Industrie-Interesse über dem Patienten-Interesse gestanden hat.
    Ich möchte mal ein ganz konkretes Beispiel nennen. Es ist noch gar nicht lange her, da ist auf europäischer Ebene die Zuständigkeit für Medizinprodukte vom Gesundheitskommissariat in das Industriekommissariat gewechselt. Das, finde ich, ist ein starkes Symbol. Diese Dinge gehören in die Hand von Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitikern, damit die Entscheidungen im Interesse der Patientinnen und Patienten getroffen werden. Und man muss es leider ganz deutlich sagen: Wir ringen seit Jahren darum, dass dort mehr passiert, dass nicht die Krankenhäuser – die haben ja ein wirtschaftliches Interesse daran, diese neuen Dinge einzubauen. Da könnte die Politik was tun, aber sie hat es nicht getan, auch in Deutschland nicht. Das ist sehr, sehr ärgerlich.
    Becker: Danke! – Florian Lanz war das. Er ist Sprecher des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenkassen. Schönen Abend.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.