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Glasperlenspiel auf französisch

Geologie. - Erdrutsche, bei denen riesige Schlammlawinen mit enormer Geschwindigkeit zu Tal donnern, fordern immer wieder viele Todesopfer. Forscher der Université de Provence in Marseille entwickeln jetzt ein mathematisches Modell, mit dem sich die rutschenden Erdmassen gefahrlos untersuchen lassen.

Von Sascha Ott |
    Das Japan-Experiment ist das Trauma aller Erdrutschforscher. Drei Jahrzehnte ist es mittlerweile her, dass man ganz kontrolliert an einem Hang in Japan untersuchen wollte, wie sich ein Erdrutsch auswirkt. Professor Gerd Gudehus vom Institut für Boden- und Felsmechanik der Universität Karlsruhe erinnert sich noch genau an die Katastrophe.

    "Oben hat man mit Wasserschläuchen Wasser eingeleitet, so wie das in der Natur durch Regen geschieht. Und unten standen die Fachleute. Zunächst passierte gar nichts. Und nach einiger Verzögerungszeit - offenbar musste das Wasser erst mal eindringen und den Boden weich machen - geriet die Masse in Rutschung. Und dann rutschte sie so schnell, dass die Fachleute unten nicht mehr weglaufen konnten. Es sind zehn umgekommen. So schlecht hat man es verstanden! Und das Verständnis ist nicht viel besser geworden."

    Immer noch sind Erdrutsche für die Forscher im wahrsten Sinne völlig unberechenbar. Das liegt vor allem an der komplizierten Struktur des Materials, das den Hang hinab stürzt. Die Mischung aus aufgewühltem Geröll, Schlamm und Wasser entzieht sich jeder konventionellen Beschreibung mit einfachen physikalischen Strömungsgesetzen. Solche körnigen Medien verhalten sich wie eine Kombination verschiedener Aggregatzustände, erklärt Professor Olivier Pouliquen von der Université de Provence in Marseille.

    "Wenn ich mir Zucker in den Kaffee schütte, fließt er hinein wie eine Flüssigkeit. Aber man kann damit auch einen Hügel aufschütten, der wie eine feste Masse ist. Und wenn man körniges Material sehr stark aufwühlt, dann verhält es sich wie ein Gas. Wir haben also ganz unterschiedliche Fließzustände für das gleiche Material, die wir zu einer einheitlichen Betrachtung verbinden wollen."

    Die französischen Physiker haben jetzt erstmals ein mathematisches Modell entwickelt, um die Auswirkungen eines Erdrutsches vorherzusagen. Für die Simulation im Computer mussten sie zunächst Daten darüber sammeln, welche Kräfte bei einem Erdrutsch freigesetzt werden. Gewarnt durch das katastrophale Experiment in Japan haben sie aber darauf verzichtet, einen realen Hang in Bewegung zu versetzen. Stattdessen entwickelten sie ein einfaches Modell: Den Erdrutsch im Labor simulieren Glasperlen auf einer schiefen Ebene.

    "Die Experimente, die wir mit den Glasperlen machen, sind im Grunde ganz einfach. Wir haben eine schiefe Ebene, zwei Meter lang und 70 Zentimeter breit, die bis zu 40 Grad schräg gestellt werden kann. Am oberen Ende ist eine Art Reservoir für die Perlen, aus dem man das Material kontrolliert den Abhang hinunter fließen lassen kann. Außerdem können wir die Oberfläche der Ebene durch grobe Körner verändern, um die Unebenheiten des Hangs zu simulieren."

    Hochgeschwindigkeitskameras und andere Messgeräte verfolgen, wie viel Masse mit welcher Geschwindigkeit den Hang hinabrauscht und wie sich die Wucht der Glasperlen weiter ausbreitet. Aus diesen Daten hat Olivier Pouliquen erste Formeln entwickelt. Sie berechnen, welche Ausbreitungsgeschwindigkeit, Reichweite und Energie ein Erdrutsch je nach Struktur und Steilheit des Hanges entwickelt.

    "Die Formel, die wir suchen, soll alle diese Möglichkeiten einschließen. Bisher haben wir verschiedene Modelle, eines für jede Ausgangslage, aber noch keine Gesamtsicht. Und danach suchen wir jetzt."

    Dafür müssen noch eine Menge Besonderheiten in die Erdrutschformeln einbezogen werden. Zum Beispiel weiß man inzwischen, dass manche Schlammlawinen auf einer Art Gleitschicht wie ein Luftkissenboot zu Tal schießen. Geschwindigkeiten von mehr als 300 Kilometern pro Stunde können so erreicht werden. Erst wenn die Modelle auch solche Spezialfälle berücksichtigen, werden sie wirklich für die praktische Vorhersage von Erdrutschfolgen einsetzbar sein.