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Glaube, Aberglaube und Tod

Gräber und Bestattungsrituale geben Auskunft über die Todes- und Jenseitsvorstellung historischer Gesellschaften, aber auch über ihre Art im Diesseits zu leben, zu fühlen und zu denken. An der Berliner Humboldt-Universität haben sich Archäologen, Ethnologen, Religionswissenschaftler und Historiker getroffen, um Todesvorstellungen und Bestattungsritualen - von der Frühgeschichte bis zur Neuzeit - vorzustellen und zu diskutieren.

Von Eva-Maria Götz | 04.12.2008
    "In der Archäologie, bei archäologischen Ausgrabungen, hat man es ständig mit Grabbefunden zu tun, die schwierig zu erklären sind, die so besondere Merkmale aufweisen, zum Beispiel Gräber, die mit Steinen bedeckt sind, wo also große Findlinge auf den Toten gewälzt worden sind, bei so etwas stellt sich die Frage: Haben wir hier eine Vorkehrung vor uns, die sich dagegen richtet, dass dieser Tote sich seinem Grabe wieder enthebt und bei den lebenden Schaden anrichtet?"

    Felix Biermann, Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Berliner Humboldt Universität, befindet sich in einem Dilemma: Einerseits sind Gräber eine der wichtigsten Quellen bei der Erforschung historischer Gesellschaften. Anderseits treffen er und seine Kollegen immer wieder auf Funde, die sie sich nicht erklären können und die sowohl Ausdruck besonderer Bestattungsriten wie auch ein Spiel des Zufalls sein können.

    "Wenn jemand ein Kreuz mit in sein Grab kriegt, darüber bracht man sozusagen nicht weiter nachdenken, wenn man allerdings einen Gegenstand ganz anderer Art, wenn man eine Sichel ins Grab legt, dann stellt sich schon die Frage: Was ist das und man muss es schon anders benennen, diesen ganzen Komplex solcher Maßnahmen als nun christliche Riten am Grab vorzunehmen und daher denke ich, man darf das nicht als zwei Gegenpole betrachten, man sollte auch Aberglauben nicht mit einer negativen Konnotation betrachten - der Begriff "Volksglaube" ist hier sicherlich neutraler und nicht ungünstig - aber es ist schon ein Komplex von Mythen und Riten, die eine eigene Kategorie bilden."

    "Glaube-Aberglaube-Tod" war der Titel der Tagung, zu der Professor Biermann Ethnologen, Anthropologen, Religionswissenschaftler und Historiker nach Berlin lud. Dass die Differenzierung in Glaube und Aberglaube schwierig und in ihrem Fach gänzlich unmöglich sei, machte gleich zu Beginn die Kassler Ethnologin Bettina Volk klar: Moderne Ethnologie gehe von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung schriftloser Gesellschaften aus. Deren traditionelle religiöse Praktiken seien somit unmittelbarer Ausdruck ihrer Kultur und nicht abwertend als "Aberglauben" zu bezeichnen. Und auch der Luzerner Volkskundler Kurt Lussi meinte:

    "Der Volkskundler ist Chronist, der schreibt auf. Die Kunde vom Volk heißt, er schreibt auf, was das Volk glaubt, was es tut, was es macht, was es sagt. Das zu beurteilen ist dann nicht mehr seine Aufgabe."

    Was Lussi dann allerdings in seinem Vortrag aus seinem Arbeits- und Forschungsgebiet in der Zentralschweiz zu berichten wusste, und zwar aus heutiger Zeit, sprengte schon ein wenig die Vorstellungskraft.

    "Da war ein Bauernhaus, von dem man sagte, dass da irgendwelche Geister drin hocken würden, und ein junges Paar hat das nicht geglaubt, aber schon nach kurzer Zeit hat sich gezeigt, dass da offenbar irgendetwas spukt, weil die Frau hat das Gefühl gehabt, sie sei von einem Geist irgendwie berührt worden. Und ein "Versegner" hat festgestellt, dass in einer Ecke so ein Feuergeist hockt, hat gesagt, das ist gefährlich, da muss was geschehen und da muss man was tun, hat den Benediktus-Segen, also eine Fotokopie des Segens drauf geheftet. Aber offenbar hat das nicht genügend genützt, weil: Plötzlich hat es einen Knall gegeben als der junge Mann nach Hause kam und die Stube hat lichterloh gebrannt. Alles ist verbrannt, bis auf diesen Zettel eben nicht und es waren über 1000 Grad Hitze."

    Wie tief verwurzelt der Glaube an Geistererscheinungen und Magie seit Jahrtausenden ist, machte Lussi daran deutlich, dass christliche Kirchen oft an Orten gebaut seien, an denen sich zuvor heidnische Kultstätten befunden hätten.

    "Ein Beispiel ist die Kirche von Oberschongau, wo die Mutter Gottes verehrt wird, Grabungen haben ergeben, dass zu römischer Zeit da ein Venustempel war."
    Auch die Archäologin Kathrin Schade aus Berlin berichtete von vorchristlichen Todesvorstellungen, die in Auszügen dennoch Jahrtausende überlebt haben, beispielsweise die in der Antike weit verbreitete Idee einer Trennung des Totenreiches in ein "Elysium der Glückseligen" für die Guten und die "finstere Unterwelt" für die Bösen, die durchaus eine Entsprechung in der Einteilung "Himmel und Hölle" haben. Bis in die Neuzeit war es auch hierzulande zwar nicht die Regel, aber auch nicht unüblich, Verstorbenen eine Geldmünze in den Mund zu legen. In der Antike war das der "Charonspfennig", der den Fährmann der Toten milde stimmen sollte. Ungewöhnlich konkret war allerdings die Vorstellung von einem Leben nach dem Tode, wie es den Angehörigen einer Verstorbenen in Kalabrien in vorchristlicher Zeit vorschwebte: Sie bestatteten die jungen Frau mit einem Goldblech auf der Brust als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zu einem besonderen Kult:
    "Das Goldblech ist vollgeschrieben mit einem griechischen Text, der zum einen eine Reiseanleitung gibt, wo sich die verstorbene Person lang zu bewegen hat, was für Bäume dort wachsen, nach rechts und nach links, also eine ganz konkrete Anweisung, wie sie den Weg ins das Totenreich findet, weil das macht man ja zum ersten Mal. Und außerdem wird noch gesagt, welche Worte die Verstorbene sprechen muss, damit die Wächter der Unterwelt, sie dann ins Reich der Glückseligen ziehen lassen. Das ist wie ein Code, und nur wenn sie diesen Code korrekt ausspricht, dann darf sie zu den Glückseligen."

    Neben den Gräbern von Menschen, die eines natürlichen Todes gestorben sind, war ein weiter Schwerpunkt der Tagung die Beschäftigung mit Opfern von Straftaten oder Hinrichtungen. Und von Menschenopfern, die sich bis weit in die Neuzeit nachweisen lassen, wie die Religionswissenschaftlerin Adelheid Hermann-Pfand von der Universität Marburg erklärte. Die ältesten Funde datieren aus der Bronzezeit, als im vierten vorchristlichen Jahrtausend die ersten sesshaften und hierarchisch strukturierten Gesellschaften entstanden und sich die Menschen nicht mehr nur als Opfer einer feindlichen Umgebung fühlen mussten.

    "Das Opfer ist sicherlich ein Versuch, den Beutestatus des Menschen gegenüber Raubtieren und natürlich auch gegenüber allen möglichen anderen Gefahren, abzubauen und eine Art Allmachtsfantasien zu verwirklichen, die man als Herrschaft des Opferers über Leben und Tod konkretisierte. Also indem er den oder die Geopferte tötete, hatte er die Möglichkeit zu beweisen, dass er den Tod beherrschte, und damit konnte er zumindest vorübergehend rituell seine eigene Unsterblichkeit beweisen."

    In Mittel- und Südamerika gehörten Menschenopfer zum religiösen Ritus. Doch was ist mit den menschlichen Überresten, die in Mitteleuropa gefunden wurden und werden, beispielsweise bei Ausgrabung einer Wikingersiedlung in Jütland oder einer vorchristlichen Siedlung im österreichischen Hallein? Waren die in Grundsteinen und Wehrbauten gefundenen Kinderleichen sogenannte "Bauopfer", die einst die Schutzgeister besänftigen sollten? Bis heute sind Sagen und Märchen, die von solchen Opfern noch bis ins 19. Jahrhundert eindrücklich berichten, Bestandteil des Volkswissens, meinte die Berliner Archäologin Ines Beilke-Voigt. Ob es sich bei diesen teilweise erschreckend konkreten Erzählungen um Tatsachenberichte oder doch um Aberglauben handele, werde nun mithilfe von gentechnischen Untersuchungen und Computertomografie festgestellt. Noch stehen diese Forschungsarbeiten allerdings am Anfang.