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Glaube und Zweifel im Judentum
Wo war Gott in Auschwitz?

Holocaust-Überlebende berichten oft: Seit Auschwitz können wir nicht mehr religiös sein. Wer die Nazi-Verbrechen miterlebt hat, kann nicht mehr an einen allmächtigen, gütigen Gott glauben. Warum hat Gott bei den Massenverbrechen zugeschaut? Wo war Jahwe während der Shoah? Diese Frage rüttelt am jüdischen Gottesbild.

Von Jens Rosbach | 26.01.2017
    Am Ende des Gleises im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau steht eine Plastik, die an das Zerreißen der Familien auf der Rampe erinnert.
    Es bleibe ein Mysterium, wo Gott während des NS-Massenmordes war (picture alliance / zb /Frank Schumann)
    Rabbiner Zsolt Balla tut alles, um das spirituelle Leben seiner jüdischen Gemeinde in Leipzig zu fördern. So greift der Seelsorger oft selbst zur Gitarre, um Psalmen zu singen. Doch fragen ihn die Mitglieder nach der Shoah, weiß Balla oft nicht weiter.
    "Die typische Frage ist: Wenn es einen allmächtigen und guten Gott in der Welt gibt, wie konnte er so etwas zulassen?"
    Balla, der aus Ungarn stammt und sich in Berlin zum orthodoxen Rabbiner ausbilden ließ, räumt ein: Es bleibe ein Mysterium, wo Gott während des NS-Massenmordes war.
    Orthodoxe: Gott ist allmächtig
    "Wir können nur kleine Pixel sehen von einem Billiarden-Megapixel-Bild. Wir können nur ein sehr kleines Segment sehen. Wir denken, dass Gott, er hat die Möglichkeit das ganze Bild zu sehen."
    Für den Seelsorger geht es letztlich nicht um logisches Verstehen, sondern um festgelegte Glaubensgrundsätze: Das orthodoxe Judentum habe sich nach den 13 Axiomen zu richten, die der jüdische Rechtsgelehrte Mosche Ben Maimon im 12. Jahrhundert aufgestellt hat. Maimon, genannt Maimonides, habe Gottes Allmacht gepredigt; dies dürfe nicht angezweifelt werden - auch nicht angesichts der Verbrechen an seinem Volk.
    "Gott ist allmächtig. Wir können das nicht infrage stellen. In der Sekunde, in der man das infrage stellt, bedeutet das, dass man nicht mehr im Rahmen von Orthodoxie ist."
    Liberale: Gott ist teilweise ohnmächtig
    Ortswechsel, Berlin-Mitte, ein Mietshaus mit schwerem Eisentor. Durch einen Hinterhof geht es ins "Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg". Hier forscht und lehrt der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Der liberale Jude, der als Kind jüdischer Flüchtlinge geboren wurde, hat ein anderes Gottesbild als der orthodoxe Rabbiner Zsolt Balla. Brumlik macht durchaus Abstriche, was die Allmacht Gottes betrifft.
    Die Publizist und Preisträger der Buber-Rosenzweig-Medaille Micha Brumlik folgt am 06.03.2016 in Hannover (Niedersachsen) dem Festakt zur Eröffnung der diesjährigen christlich-jüdischen Woche der Brüderlichkeit.
    Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler im "Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg" (dpa / Hauke-Christian Dittrich)
    "Das mich überzeugendste Erklärungsmuster ist das des Philosophen Hans Jonas, der eine wichtige Schrift verfasst hat über den Gottesbegriff nach Auschwitz, in der er sagt: Wenn man intellektuell redlich sein will, dann muss man von den klassischen Prädikaten Gottes Allgüte, Allwissen und Allmacht die dritte Eigenschaft streichen."
    Doch wenn der "Herrscher der Welt" teilweise ohnmächtig ist - kann man ihn dann noch als Gott bezeichnen?
    "Doch, das kann man schon denken. Gott ist die Weisung, der Wegweiser, die Stimme vom Sinai, die uns verpflichtet. Aber nicht jemand, der von jenseits des Weltalls beliebig in die menschlichen Dinge reinfunken kann."
    Rabbi Rubenstein: Gott ist tot
    Der Professor weiß, dass Jonas‘ Ansatz Fragen aufwirft. Etwa, ob Gott jemals allmächtig gewesen ist.
    "Was natürlich im Widerspruch zu den Befreiungsgeschichten der Kinder Israel aus Ägypten steht. Weil da ist es ja Gott, der mit starker Hand und ausgestrecktem Arm Israel aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hat. Das konnte nur ein allmächtiger Gott."
    Wo war Gott, als sechs Millionen Juden vernichtet wurden? Eine Frage, die die jüdische Theologie seit Jahrzehnten beschäftigt. Den Auftakt machte 1966 der US-amerikanische Rabbiner Richard Rubenstein. Mit seinem Buch "Nach Auschwitz" rüttelte er die religiöse Fachwelt auf.
    "Im Grunde lässt sich seine Position in drei Worten zusammenfassen: Gott ist tot."
    Berichtet der Historiker und Germanist Christoph Münz. Nach Angaben des hessischen Publizisten argumentierte Rubenstein damals radikal:
    "Erstens: Gott kann es unmöglich erlaubt haben, dass der Holocaust geschehen ist. Zweitens: Der Holocaust ist aber geschehen. Und deshalb, drittens, existiert Gott – so wie es in der jüdischen Tradition gedacht ist – nicht."
    KZ-Überlebender Fackenheim: Gott ist trotzdem
    Heftige, innerjüdische Debatten folgten. Eine viel beachtete, gegensätzliche These stammt vom jüdischen Philosophen Eliezer Berkovits. Der Rabbiner war 1939 aus Nazi-Deutschland geflüchtet und lebte viele Jahre in den USA.
    "Berkovits sagt, dass Gott im Holocaust sein Angesicht verborgen hat. Und er tut dies, um den Menschen und der Schöpfung Raum für Freiheit zu geben – dass das Gute und das Böse gleichermaßen stark werden können."
    Christoph Münz, der seine Dissertation über die Theologie nach Auschwitz geschrieben hat, analysiert: Einige Rabbiner argumentieren nicht rein religiös, wenn es um die sogenannte Theodizee-Frage geht, um die Frage nach Gottes Rolle bei all dem Übel in der Welt. So habe der liberale Gelehrte Emil Fackenheim, ein KZ-Überlebender, eine historisch begründete These aufgestellt. Fackenheim meint, dass in der Nazi-Zeit Gottes Ruf hörbar wurde: nämlich sein Gebot, trotzdem weiter zu glauben.
    "Die Begründung ist: Wenn Du anfängst, an Gott zu zweifeln, dann tust Du Hitlers Job. Genau das wollte er erreichen: dass wir Juden, unser Erbe, unsere Tradition, unsere religiöse Identität aufgeben."
    Emil Fackenheim fügte den 613 jüdischen Geboten ein weiteres hinzu: Man dürfe den Nationalsozialismus nicht im Nachhinein siegen lassen. Seitdem beachten viele Juden weltweit Fackenheims 614. "Gebot". Christoph Münz:
    "In gewisser Weise öffnet er eine Tür, durch die sowohl religiöse wie säkulare Juden gehen können und sozusagen auf ihre Weise dieses 'Trotz-Alledem' interpretieren können."
    Gott als Strafender, Missbrauchender
    Allerdings wurden in den vergangenen Jahrzehnten auch einige theologische Erklärungen wieder verworfen. So argumentierte man lange Zeit im orthodoxen Judentum, Gott habe die NS-Vernichtungsmaschinerie zugelassen als Strafe für die Sünden seines Volkes. Etwa für die vermeintliche "Sünde", dass immer mehr Juden seit der Aufklärung rational denken und nicht mehr fromm sind. Doch heute sprechen viele Orthodoxe, wie der Leipziger Rabbiner Zsolt Balla, nicht mehr vom Holocaust als "göttliche Strafe".
    Rabbiner Avraham Radbil (l) und Rabbiner Zsolt Balla stehen bei der feierlichen Ordinierung am Dienstag (02.06.2009) in München (Oberbayern) vor der Synagoge. Die aus Ungarn und der Ukraine stammenden Geistlichen sind die ersten Absolventen des 2005 begründeten Rabbinerseminars zu Berlin und werden im kommenden Jahr in den jüdischen Gemeinden in Köln und Leipzig eingesetzt. Damit sind erstmals seit rund 70 Jahren in Deutschland wieder orthodoxe Rabbiner ordiniert worden.
    Der aus der Ukraine stammende orthodoxe Rabbiner Zsolt Balla 2009 bei seiner Ordinierung in München (dpa / IKG/Unterreitmeier)
    "Wenn wir sagen: Es gibt eine Ursache und eine Wirkung, dann haben wir die Arroganz zu sagen: Ich weiß, warum welche Sache in der Welt passiert. Nur Gott weiß das! Warum ist das so? Wir wissen es nicht."
    Eine der provokantesten Gottesthesen – wurde vor rund 25 Jahren von David Blumenthal aufgestellt. Der US-Amerikaner ist Professor für jüdische Studien. Als Gott den Holocaust zuließ, habe er sein eigenes Volk missbraucht, lautet Blumenthals Anklage. In psychoanalytischen Kreisen sei dieser Ansatz auch auf Zustimmung gestoßen, erklärt Experte Christoph Münz.
    "Aber im religiösen Bereich ist er für diese Position heftig kritisiert worden – in dem Sinne, als dass er ja nun mit diesem Bild Gottes als einen Vater, der sein Kind missbraucht, gänzlich die jüdische Tradition verlassen würde. Und eine völlige Neudeutung betreibt, die so nicht mitgetragen werden kann."
    Die theologischen Dispute sind jahrzehntelang zumeist nur unter Rabbinern und Intellektuellen geführt worden – und nicht in den Synagogen. Die Shoah-Debatten haben in den Gemeinden kaum Niederschlag gefunden. Wenn heute der Anteil gläubiger Juden geringer sei als früher, resümiert Fachmann Münz, liege dies am allgemeinen Trend zur Säkularisierung.
    "Das macht deutlich, dass im Mainstream, im Großen und Ganzen sozusagen, der Holocaust offenbar keine zentrale Rolle spielt in einer Revidierung oder Veränderung der persönlichen Glaubenseinstellungen. Das Gottesbild ist selber mehr oder weniger intakt geblieben."