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Glaubensbekenntnisse im 21. Jahrhundert

Die Berliner Theatertruppe Nico and the Navigators hat beim Kunstfest Weimar "Pèlerinages" ein Stück aufgeführt, das Gioacchino Rossini keinem geringeren als dem leiben Gott gewidmet hat: die "petite messe solennelle" . Mit Gesang, Tanz und Schauspiel wird dieses Oratorium sozusagen mit ganzen Körper gespielt.

Von Frieder Reininghaus | 03.09.2011
    Zwei Darsteller treten unter dem Rundbogen hervor, den Oliver Proske als großes Signal auf die Bühne setzen ließ. Wie zuletzt in Christoph Marthalers Salzburger Inszenierung der "Sache Makropulos" beginnen sie einen von Kommunikationsproblemen gekennzeichneten deutsch-englischen Dialog über eine Folgeerscheinungen des heutigen Glaubenswillens.

    Der findet beziehungsreich statt - im Vorfeld der Rundreise von Benedikt XVI., die ja auch nach Erfurt führt: "Did you see the Pope?" Doch, so werden wir informiert, das sei nicht entscheidend; es gehe vielmehr darum, ob der Papst dich gesehen hat. Dann beginnt das, was Nicola Hümpel nach der Rezeptur von Alain Platel und anderen im letzten Jahrzehnt bedeutsam gewordenen Tanzkonzeptkünstlern als "Konzert der Körper" konzipierte und in einem aufwendigen gruppendynamischen Prozess einstudieren ließ.

    Zwei Flügel werden aus der Kulisse zum Harmonium geschoben, das schon auf der freien Bühne wartet und von Jan Gerdes betreut wird. Sie sekundieren dem Gesang von zwölf Sängern unterschiedlichen Kalibers. Da treffen die Sopranistin Laura Mitchel, die scharf intoniert und insbesondere beim "Crucifixus" zum Übertreiben des parodistisch Gemeinten tendiert, oder ein allzu nachdrücklicher Tenor auf den hoch kompetenten Bassisten Nicolay Borchev.

    Der Körperartistin Yui Kawaguchi, deren Spagat so sehenswert ist wie die abrollenden Bodenturnbewegungen, steht die mit ruhiger, warmer Stimme und perfektem Registerausgleich überzeugende Mezzosopranistin Ulrike Mayer gegenüber, die das "Agnus Dei" zu einem großen Ruhepol der Produktion nobilitiert.

    Das von dem über die Bühne tänzelnden Dirigenten Nicholas Jenkins animierte Team ist so bunt und inhomogen wie Rossinis Musik. Von deren stark verrutschter kirchenmusikalischer Würde weiß niemand zu sagen, wie ernst und feierlich sie gemeint gewesen sein könnte. Zu hören ist, wie grotesk sie geriet in den Jahren, in denen Agnostizismus und Atheismus in Mittel- und Westeuropa die allgemeinsten Denkformen wurden und die von Rom aus administrierte Glaubenswelt sich mit dem Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes in den Winkel stellte.

    Nicola Hümpel ließ die Messteile mit mehr oder minder improvisiert wirkenden Gesprächsfetzen und assoziativen Ganzkörpereinlagen auflockern. Da mag sich andeuten, dass "Demut" so etwas wie "Eitelkeit auf Knien" sein kann und dass es heute mit dem Glauben so vertrackt ist wie mit dem Zweifel. Eine Ereiferung über das unergründliche Schlüsselwort "Amen" scheint ein kleines Gebersten der religiösen Sphäre aufs Korn zu nehmen - die größeren Krankheiten bleiben ohne Diagnose.

    Der mit unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten dahindümpelnde Abend gewinnt noch einmal Drive und Intensität, wenn zwei der Akteure auf geschwungenen Sitzelementen zu turnen beginnen und demonstrieren, wie schwer sich der Mensch in die schwerelos wirkende Schwebe begeben kann. Auch das mag als so etwas wie ein "poetisches Bild" genommen werden und delektiert mit Anmut - Religionskritik oder vernünftige Auseinandersetzung mit dem derzeit wieder wogenden Glaubensbedürfnis oder den tsunamiartig sich ausbreitenden Wellen des Aberglaubens findet nicht statt.

    Das mag daran liegen, dass es dem Projekt an dramaturgischer Beratung ebenso mangelte wie am Willen, Stiere und Kühe bei den Hörnern zu packen. So ergibt sich retrospektive Religionsbetrachtung und Ritual-Reflexion - unverbindlich wie esoterisch. So, wie an den Rändern des Protestantismus die hanebüchene Idee der "nonverbalen Verkündigung" blüht, so missversteht die "Kreativität" der Hümpel-Truppe mit der programmatischen Begriffslosigkeit der Gruppenführerin die Probleme der Darstellung von und Kritik an Glaubensbekenntnissen und Zivilisationsproblemen im frühen 21. Jahrhundert. So lange dergleichen Ansinnen so lieb und lammfromm bleibt, kann Benedikt weiterhin ruhig schlafen.