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Glaubensstreit um den Tod

Mehr als 500 Menschen haben sich alleine 2011 in der Schweiz für einen begleiteten Freitod entschieden. Befürworter sprechen von einer breiten Akzeptanz der Sterbehilfe in der Schweizer Gesellschaft. Doch Kirchen und ihre Gläubige entzweit das Thema weiterhin.

Von Marc Engelhardt |
    Katholische Stimmen warnen: Eine altenfeindliche Gesellschaft und auch der Kostendruck im Gesundheitswesen treiben Menschen erst in die Einsamkeit und dann in die Selbsttötung. Die protestantischen Kirchen billigen Sterbehilfe unter bestimmten Umständen.

    Für Werner Kriesi ist der Tod so etwas wie seine Berufung. Der bald 80-jährige Schweizer hat erst am Abend zuvor wieder einen Mann beim Sterben begleitet.

    "Vor drei Monaten hat sich ein Anwalt bei mir gemeldet mit unheilbarem Prostata-Krebs, und der Mann leidet seit fünf Jahren an diesem Krebs, wird immer wieder operiert und neu behandelt. Der Krebs kann nicht mehr geheilt werden, aber die medizinischen Behandlungen bewirken, dass er bis zum heutigen Tag sein Leben behalten konnte. Und jetzt sagt er: so kann ich nicht mehr weiterleben. Seit 5 Jahren leide ich, ich weiß ich muss sterben, und jetzt möchte ich Sie bitten meinen Freitod vorzubereiten."

    Für Werner Kriesi ist das keine ungewöhnliche Bitte. Seit seiner Pensionierung ist der ehemalige Pfarrer der Zürcher reformierten Kirche Sterbebegleiter bei Exit, der ältesten Sterbehilfe-Organisation der Schweiz. Der Anwalt, den er diesmal begleitete, war praktizierender Christ. Dennoch wollte sein Leben beenden - mit Kriesis Hilfe.

    "Es war eine Person, die hat das Neue Testament in der Zwingli-Ausgabe herausgegeben, ein Mann, der sich sehr mit Theologie beschäftigt und weiß: nach seinem Bibelverständnis darf er diesen Weg gehen. Ich habe drei Monate immer wieder Gespräche geführt. Vor ein paar Tagen haben wir telefoniert: es ist unerträglich geworden, können sie mich in den kommenden Tagen begleiten. Ich habe gestern abend mit seiner Ärztin zusammen, die ihm die Infusion vorbereitet hat, ihm den Tod bereitet."

    Mehr als 500 Menschen haben sich alleine 2011 in der Schweiz für einen begleiteten Freitod entschieden, Tendenz: stark steigend. Die Sterbehelfer von Exit feiern in diesem Jahr ihr dreißigstes Jubiläum. Sie sagen: Die Sterbehilfe genieße heute in der Schweizer Gesellschaft breite Akzeptanz. Doch die Kirchen und ihre Gläubigen spaltet das Thema bis auf den Tag. Selbst in seiner alten Gemeinde, glaubt Kriesi, gebe es manche, die ihn gar für einen Mörder halten.

    "Das ist durchaus möglich, aber das berührt mich nicht. Das sind subjektive Urteile von Menschen, die das so sehen, und ich sehe keinen Grund, dass mich das quälen soll. Ich bin überzeugt, das was ich tue entspricht Liebe und Barmherzigkeit und das sind zentrale Motive, die die Bibel durchziehen. Ich will Barmherzigkeit, nicht Opfer, höre ich vom biblischen Propheten."

    Bei weitem nicht alle Theologen interpretieren die Bibel so wie Werner Kriesi. Der katholische Theologe Thierry Collaud widerspricht vehement.

    "Die Freiheit sich umzubringen existiert wohl, aber ich halte jeden Selbsttötung für ein menschliches Drama, es gibt da keinen positiven Aspekt. Das ist das eine. Aber aus der individuellen Freiheit leitet sich noch kein Recht ab. Das was gerade in einem Schweizer Kanton diskutiert wird, dass es ein universelles Recht auf Suizid und auf Hilfe dabei geben soll, ist etwas vollkommen anderes."

    Collaud ist nicht nur Theologe, sondern auch Arzt. Seit zwei Jahren leitet er die Bioethik-Kommission der Schweizer Bischofskonferenz, die sich auch mit ethischen Fragen der Gentechnik und der Stammzellenforschung auseinandersetzt. Doch derzeit ist die Sterbehilfe eines der am meisten diskutierten Themen. Collaud spricht von einer tragischen Entwicklung.

    "Wenn man darüber nachdenkt, was hinter dem Wunsch nach einem Selbstmord steckt, dann ist das fundamental doch die Hoffnungslosigkeit: das Gefühl, das eigene Leben ist nichts mehr wert. Ich glaube, dass wir als Christen für eine Gesellschaft eintreten müssen, in der es wieder mehr Hoffnung gibt. Im Fall von schwerer Krankheit muss man etwa versuchen, mit Hilfe der Palliativmedizin Schmerzen zu lindern. Solche Verfahren zeigen doch, dass man auch in schweren Zeiten weiterleben kann - und diesen Gedanken halte ich für essentiell."

    Miteinander reden Kritiker aus den Kirchen und Sterbehelfer von Organisationen wie Exit selten. Streit wird meist öffentlich ausgetragen: die katholische Kirche wolle eine Theokratie, in der Kondome und Sterbehilfe untersagt seien, wetterte kürzlich der Exit-Präsident der Westschweiz, Jerome Sobel. Da hatte Bioethik-Kommissions-Vorsitzender Collaud provokativ Sterbehilfe mit Euthanasie verglichen, die aus seiner Sicht nur wenig trennt. In Großbritannien, wo aktive Sterbehilfe bisher verboten ist, ist zumindest die Diskussionskultur besser: dort hat eine Kommission gesellschaftlich relevante Gruppen zum zukünftigen Umgang mit Sterbehilfe befragt. Der Anglikaner James Woodward hat dabei die Kirchen vertreten.

    "Meine Ansicht ist: die Zeit ist noch nicht reif für die Legalisierung der Sterbehilfe. Was wir wirklich brauchen, ist mehr Fantasie bei der Planung des Lebens und auch des Todes. Ich möchte, dass wir wieder mehr in ethischen, moralischen, spirituellen und auch ganz praktischen Kategorien über den Tod nachdenken und ihn damit enttabuisieren. Erst dann kann man entscheiden, welche Entscheidungen man haben könnte und sollte, wenn es um den eigenen Tod geht."

    Woodward, dessen Wort als Domherr der St.-George-Kapelle im Schloss von Windsor Gewicht in der Öffentlichkeit hat, gab bei der Vorstellung des Kommissionsberichts Anfang des Jahres ein Minderheitenvotum gegen die Legalisierung der Sterbehilfe ab, obwohl er sie selbst, nicht grundsätzlich ablehnt.

    "Zunächst einmal aber muss noch viel getan werden, um das Leben älterer Menschen besser zu machen. Das hat auch mit Wertschätzung für das Leben zu tun und damit, dass wir die Entscheidung, wie unser Tod sein soll, nicht allein auf Grundlage unserer Ängste treffen sollten."

    Woodward plädiert für ein Moratorium. Das gebe Zeit, noch intensiver über die Folgen einer Freigabe der Sterbehilfe nachzudenken. Doch dafür, warnen konservative Christen wie der Churer Pfarrer Roland Graf, ist es bereits zu spät. Graf glaubt, dass eine altenfeindliche Gesellschaft und auch der Kostendruck im Gesundheitswesen Menschen erst in die Einsamkeit und dann in die Selbsttötung treibt. Dass protestantische Kirchen die Sterbehilfe unter bestimmten Umständen billigen, ist für ihn unverständlich.

    "Da fühlt man sich hier und da doch im Stich gelassen, aber man muss auch sagen, dass in evangelikalen Kreisen die gleiche Tendenz da ist. Die Leute, die sehr treu zur heiligen Schrift stehen, nehmen natürlich auch das Gebot ernst: du sollst nicht töten."

    Graf sieht evangelikale Gruppierungen als neue Verbündete der katholischen Kirche im Kampf gegen die Sterbehilfe. Ein Ende dieses Kampfes ist nicht absehbar. Denn längst sind es nicht mehr nur unheilbar Kranke, die Sterbehilfe für sich in Anspruch nehmen. Des Lebens müde und überdrüssig zu sein, ist immer häufiger ein Motiv für 'Bilanz-Selbstmorde', wie Sterbehelfer Sie nennen. Unter ihnen werden bereits Forderungen laut, jedermann solle auch ohne Grund ein Recht auf Sterbehilfe haben.