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Gleiches Erbgut, unterschiedliche Funktion

Onkologie. - Die Krebsgenetik hat für Fortschritte in der Krebsmedizin gesorgt – und für einen großen Optimismus. Die Vorstellung: Wenn es gelingt die wichtigsten Folgen der genetischen Veränderungen mit Medikamenten zu blockieren, lässt sich aus einer potentiell tödlichen Erkrankung eine kontrollierbare, chronische Krankheit machen. Kanadische Forscher haben mit einer Reihe von Experimenten dieses neue Dogma der Krebsmedizin auf den Prüfstand gestellt. Und sie sind dabei zu ernüchternden Erkenntnissen gekommen.

Von Martin Winkelheide | 14.12.2012
    Nicht alle Zellen eines Tumors sind gleich. Obwohl sie miteinander verwandt sind, sagt John Dick vom Princess Margaret Cancer Center der Universität Toronto.

    "Tumore bestehen aus genetisch unterschiedlichen Zellen. Sie können unterschiedliche Genveränderungen tragen, und sie entwickeln sich unterschiedlich. Dennoch sind die Zellen miteinander verwandt. Es ist wie bei einem Familienstammbaum. Die Kinder sind miteinander verwandt, aber sie sind jeweils ein kleines bisschen anders."

    Aus diesen kleinen Unterschieden leiten Krebsforscher gewöhnlich auch einige gefährliche Eigenschaften von Tumoren ab: Je heterogener die Zellen eines Tumors sind, um so größer ist das Risiko, dass er besonders aggressiv wächst und Tochtergeschwulste bildet. Und dass er unempfindlich wird gegen Krebsmedikamente. Mit jeder zusätzlichen Mutation gewinnen die Zellen neue Eigenschaften dazu – so die Vorstellung. Die Genetik eines Tumors zu verstehen, ist wichtig, sagt John Dick, aber es ist nicht alles.

    "It’s not the whole story."

    John Dick hat Patienten mit Dickdarmkrebs genetisch identische Zellen entnommen. Um im Bild des Familienstammbaums zu bleiben: eineiige Zell-Zwillinge. Diese Krebszellen hat er Mäusen eingepflanzt, sie eine Zeit in den Tieren wachsen lassen und dann wieder verpflanzt. Und wieder und wieder. Das überraschende Ergebnis dieses Reihenversuchs: Die Zellen haben sich unterschiedlich schnell vermehrt, nicht alle Tumorzellen haben sich schnell und aggressiv geteilt. Einige Tumorzellen stellten sogar nach der zweiten oder dritten Verpflanzung ihre Zellteilung ganz ein und starben ab.

    "Zwei Zellen in einem Tumor können die selben genetischen Veränderungen tragen. Und trotzdem verhält sich die eine Zelle vollkommen anders als die andere. Es muss also andere Faktoren geben als nur genetische, die bestimmen, wie schnell sich Tumorzellen teilen und vermehren."

    Als er den Versuchstieren eine Chemotherapie gegen den Krebs gab, machte John Dick die gleiche Beobachtung: Nicht alle Krebszellen reagierten gleich auf die Krebsmedikamente. Die große Zahl der Zellen starb ab. Eine Minderheit - insbesondere ruhende Zellen - überlebte und war danach in der Lage, neue Geschwulste entstehen zu lassen. Warum aber verhalten sich genetisch identische Krebszellen so unterschiedlich?

    "Die Auslöser dafür, ob Zellen sich schnell teilen oder ruhen, empfindlich oder unempfindlich für Wirkstoffe sind, könnten darin begründet sein, dass jeweils andere Gene an- oder ausgeschaltet sind. Eine Frage der Regulation, also der Epigenetik. Die Ursache könnte aber auch in der jeweiligen Umgebung der Zelle zu finden sein."

    Vielleicht bilden die gesunden Zellen in der Nachbarschaft die entscheidenden Faktoren. Oder benachbarte Krebszellen. Oder es kommt darauf an, wie gut eine Tumorregion mit Blut und Sauerstoff versorgt wird. Viele unterschiedliche Faktoren kommen in Frage. Welche die entscheidenden sind, ist noch völlig offen. Die Ergebnisse von John Dicks Experimenten sind so beunruhigend wie ernüchternd. Denn sie haben Folgen für die Entwicklung von neuen Krebsbehandlungen.

    "Wir als Forscher müssen uns davor hüten, einfache Vorhersagen zu machen. Nach dem Motto: Oh, wenn wir nur die Genetik eines Tumors analysieren, dann haben wir schon alle Informationen, die wir brauchen, um die besten Medikament zu entwickeln und die werden schon wirken. Wir müssen da extrem vorsichtig sein."

    Das Ziel, Krebs zu heilen oder zumindest zu kontrollieren, wird wohl noch schwieriger zu erreichen sein, als Forscher ohnehin befürchtet haben.