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Gleichstromnetz
Balancieren ohne Takt

Energietechnik. - Noch ist es eine Vision: Ein Hochspannungs-Gleichstromnetz soll große Mengen über Europa verteilen, weil sich damit Strom mit weniger Verlusten übertragen lässt. Daran arbeiten Ingenieure seit Jahren. Und inzwischen macht sich in der Branche Aufbruchstimmung breit.

Von Sönke Gäthke | 10.04.2014
    Ein Hochspannungsmast in Bayern
    Ein Hochspannungsmast in Bayern (dpa / picture-alliance / Sven Hoppe)
    Das Overlay-Netz ist in den Augen der Ingenieure und der Stromnetzbetreiber keine unerreichbare Vision mehr.
    "Das ist etwas, was sich durchaus hier realisieren lässt. Das hat schon, denke ich, ganz konkrete Formen angenommen, und das wird auch etwas sein, was wir realisieren können",
    so Thomas Benz vom Schweizer Energietechnikkonzern ABB. Der Konzern gehört zu den drei führenden Unternehmen, wenn es um die Entwicklung von Techniken für Stromnetze geht. Ein Gleichstrom-Netz galt unter den Unternehmen und Ingenieuren bislang vor allem deshalb als Vision, weil ein wichtiges Element fehlte: Der Leistungsschalter. Weil
    "...der Hochspannungs-Gleichstrom-Leistungschalter Grundvoraussetzung ist, um überhaupt Netze aufzubauen."
    Leistungsschalter sind so etwas wie die Sicherungen der Stromnetze. Tritt ein Kurzschluss im Netz auf – etwa weil ein Baum in ein Kabel gestürzt ist - fließen plötzlich riesige Ströme durch die Kabel. Die werden dadurch sehr schnell sehr heiß. Daher muss der kurzgeschlossene Teil des Netzes schnell abgeschaltet werden, am besten automatisch. Ohne Schalter müsste das Netz komplett abgeschaltet werden. Das ist bei Gleichstrom jedoch komplizierter als bei Drehstrom, so Thomas Benz:
    "Denn im Gleichstromnetz, da muss zum Beispiel der Kurzschluss viel schneller abgeschaltet werden, weil an den Enden habe ich Leistungselektronik, die eben hier nicht beschädigt werden darf, und da muss so ein Kurzschluss viel, viel schneller abgeschaltet werden."
    Nur fünf Millisekunden hat der Leistungsschalter Zeit, um einen Kurzschluss zu erkennen und zu schalten. Im konventionellen Drehstromnetz reichen 50 Millisekunden. Dazu kommt, dass es physikalisch viel schwieriger ist, einen Gleichstromfluss zu unterbrechen als einen Drehstromfluss. Eine Lösung dafür präsentieren Thomas Benz und seine Kollegen in Hannover.
    "Das heißt, wir haben mittlerweile ein Gerät, mit dem man also auch Spannungen bis 320 Kilovolt hier schalten kann, und damit sind wir eigentlich jetzt so weit, mit der Technologie, dass wir auch Hochspannungsnetze mit Gleichstrom aufbauen können."
    Auch andere Hersteller arbeiten inzwischen an solchen Leistungsschaltern für Hochspannungs-Gleichstrom. Doch ein Element fehlt doch noch: Die Steuerung. Sie muss anders funktionieren als im konventionellen Netz. Im konventionellen Netz messen die Netzwarte die Frequenz, mit der die Spannung schwingt. Die darf in Europa nur in einem ganz kleinen Bereich um 50 Hertz schwanken.
    Thomas Benz: "Jede kleine Frequenzabweichung zeigt uns: Zuviel Leistung im Netz, zu wenig Leistung im Netz -oder zu viel Verbrauch im Netz, zu wenig Verbrauch im Netz."
    Entsprechend können die Kraftwerke mehr Strom liefern – oder weniger, um das Netz stabil zu halten. Benz: "Wirklich ein relativ einfaches Verfahren."
    Ein Gleichstromnetz dagegen wird komplizierter zu steuern sein. Denn Gleichstrom hat gar keine Frequenz. Die Ingenieure brauchen also eine neue Messgröße.
    "Bei dem Gleichstromnetz, da ist dann die Spannung diejenige, also die Führungsgröße, die Systemführungsgröße, und an der Stelle muss man dann auch da zentral überwachen, wie ist die Spannung im Netz."
    Dann gilt: Sinkt die Spannung, ist zu wenig Strom im Netz und muss nachgeliefert werden – steigt sie, müssen die Kraftwerke ihre Leistung drosseln. Doch nicht alle Ingenieure sind davon überzeugt, dass sich die Spannung allein eignet. Einige halten es auch für denkbar, dem Gleichstrom ein zusätzliches Signal mit auf den Weg zu geben. Im Vergleich zum Leistungsschalter erscheint diese Frage jedoch leichter lösbar zu sein, denn die Steuerung dürfte mit der vorhandenen Hardware realisierbar
    "Also ich kann mir gut vorstellen, dass hier Deutschland den Nukleus eines beginnenden DC-Netzes durchaus sein kann",
    ist Thomas Benz daher überzeugt. In Deutschland sind drei Hochspannungs-Gleichstromleitungen geplant – die ersten in Europa, die über das Festland geführt werden. Sie sollen zwischen 2019 und 2022 in Betrieb gehen – und könnten danach erweitert werden, so dass sich aus diesen der Kern eines Overlay-Netzes ergibt.