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Glitzerwelt mit Rissen

Die Wirtschaftskrise hat viele Mittelschichtsamerikaner auf die Straße gebracht: Mütter mit Kindern, Bankangestellte, Kassiererinnen. In der Glitzermetropole Las Vegas ist die Zahl der Obdachlosen besonders hoch.

Von Michael Frantzen |
    Es ist dunkel und kalt. Wie jeden Morgen. Monica Holmes setzt General die Mütze auf. So heißt ihr achtjähriger Sohn. Es ist kurz nach halb vier morgens - in "fabulous Las Vegas" - im "fabelhaften Las Vegas", wie es immer heißt. Beide marschieren los - vorbei an Obdachlosen, die auf dem Bürgersteig kampieren, vorbei an der Leuchtreklame mit der Aufschrift "JesuSaves". Retten tut Jesus nur noch im Dunkeln: Die Reklame leuchtet schon lange nicht mehr.

    "Der Strom ist zu teuer." Monica zuckt die Schultern. Die 40-jährige Frau mit dem immer noch mädchenhaften Gesicht hat es eilig. Spätestens in einer halben Stunde muss General in der Kindertagesstätte sein, sie selbst muss Punkt 4.18 Uhr den Bus bekommen - ansonsten kommt sie zu spät zur Arbeit. Fast zwei Stunden dauert die Fahrt, einmal quer durch Las Vegas.

    Wenn man so will, ist Monica eine Vorzeige-Amerikanerin: Sie ist eigenverantwortlich, fleißig und arbeitet lieber für wenig Geld, als sich auf Staatskosten einen lauen Lenz zu machen. Monica macht alles richtig. Es gibt nur einen Haken: Auch Monica ist obdachlos. Vorübergehend hat sie Unterschlupf gefunden in der "Las Vegas Rescue Mission" - dem Obdachlosenasyl einer christlichen Hilfsorganisation.

    "Ich bin hier seit einem Monat, weil ich nicht mehr genug Geld hatte für die Wohnungsmiete. Ich bin alleinerziehende Mutter. Es ging einfach nicht mehr. Ich muss 500 Dollar an Miete zahlen - plus 200 für Strom und Gas. Dann noch mindestens 100 Dollar für den öffentlichen Nahverkehr. Mein Gehalt reicht vorne und hinten nicht. Ich arbeite als Kassiererin in einer Tankstelle. Ich bekomme nur noch 8,50 Dollar die Stunde - wegen der Krise. Das ist zu wenig, um über die Runden zu kommen."

    Bis Ende Februar können Monica und ihr Sohn erst einmal in der "Rescue Mission" bleiben. Ihr Zimmer ist sechs Quadratmeter groß: ein Doppelbett, ein Schrank, ein winziger Tisch - für mehr ist kein Platz.

    15.000 Menschen haben in Las Vegas laut offiziellen Angaben kein Dach über dem Kopf, Ken Heater, der Leiter der Mission, geht sogar von bis zu 20.000 aus - darunter immer mehr Mittelklasseleute.

    "Wir in Las Vegas dürften gerade die Hauptstadt der Zwangsvollstreckung sein. In keiner anderen Stadt der Welt können so viele Hausbesitzer nicht mehr ihre Raten zahlen. Solange die Situation auf dem Immobilienmarkt so miserabel bleibt, wird sich auch die Zahl der Obdachlosen nicht verringern. Im Gegenteil: Jemand vom Innenministerium hat mir vor Kurzem erzählt, dass allein letztes Jahr 100.000 Leute im Großraum Las Vegas die 90-Tagesfrist bekommen haben. Das heißt, entweder sie zahlen oder sie müssen ausziehen. Das bedeutet natürlich, dass noch mehr Menschen Gefahr laufen, auf der Straße zu landen."

    Dass so viele Menschen in der Wüstenstadt heute kein Dach mehr über dem Kopf haben, hat auch mit dem Mythos Las Vegas zu tun. Viele Glücksritter zieht der Mythos magisch an - nicht nur die, die meinen, ihrem Leben durchs Blackjack oder Poker eine neue Richtung geben zu können. Las Vegas - das war bis vor Kurzem die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten. Dachte sich auch Lisa Harbour. Die 45-jährige Afroamerikanerin wollte einen "clean cut", wie sie das nennt - einen klaren Schnitt. Raus aus ihrer Ehe, weg von der dominanten Mutter, einen neuen Job, ihren alten hatte sie Anfang letzten Jahres verloren.

    "Ich dachte, ich könnte in Las Vegas genau wie in Philadelphia als Bankkauffrau arbeiten. Ich hatte auch schon eine Jobzusage. Doch als ich hier ankam, im April letzten Jahres, fiel ich aus allen Wolken: Die Bank hatte meinen Job einfach jemand anderem gegeben. Und ich dachte nur: Wie bitte?!"

    Da stand sie nun - mutterseelenallein, in Las Vegas. Und konnte nichts anderes tun, als sich einzureihen in das Heer der Obdachlosen und Arbeitslosen. Vor drei Jahren suchten die Arbeitgeber noch händeringend nach Arbeitnehmern. Doch die Zeiten sind vorbei, betont Marlene Richter, die Leiterin des "Shade Tree", einem Asyl für obdachlose Frauen wie Lisa Harbour.

    "So schlimm wie jetzt war es noch nie. Wir haben zurzeit sehr viel mehr Obdachlose, die zum ersten Mal in ihrem Leben von Obdachlosigkeit betroffen sind: Bei uns sind das rund 250 der 350 Frauen und Kinder. Wir mussten uns erst einmal umstellen. Du kannst die Neulinge nicht genauso behandeln, wie Leute, die schon öfters auf der Straße waren. Viele mussten ja noch nie mit Wildfremden einen Schlafplatz teilen. Wir versuchen, ihnen zu helfen, damit umzugehen. Doch es ist schwierig. Beim derzeitigen Arbeitsmarkt brauchen die Frauen durchschnittlich drei bis sechs Monate, bevor sie einen Job finden. Das ist eine ganz schön lange Zeit."

    Warten auf bessere Zeiten - vielen Obdachlosen wie Lisa Harbour bleibt nichts anders übrig - auch wenn die Aussichten schlecht sind. Las Vegas, meint Marlene Richter, zählt zu einem der "Ground Zeroes" der Finanzkrise. Hier sind die wirtschaftlichen Folgen besonders krass.

    "Die Krise hat auch viele unserer Spender voll erwischt. Das Spendenaufkommen ist drastisch gesunken. Das gilt nicht nur für Privatspender, sondern auch für Spender aus dem Wirtschaftsbereich. 2008 haben wir 800.000 Dollar weniger eingenommen. Das sind rund 30 Prozent unseres Gesamtbudgets. Wir von 'Shade Tree' können eigentlich nur noch überleben, weil wir in den besseren Zeiten Geld für den Notfall zurückgelegt haben. Das Obdachlosenasyl lebt von seinen Ersparnissen."

    Es ist heiß und sonnig. Eine Stunde noch - dann wird die Sonne untergehen - in "fabulous Las Vegas". Es ist kurz nach vier nachmittags. In ein paar Minuten wird Monica Holmes General aus der Kindertagesstätte abholen, tagsüber war er in der Grundschule.

    Ein langer Arbeitstag liegt hinter ihr. Acht Stunden in der Tankstelle am anderen Ende der Stadt. Plus vier Stunden Busfahrt. Monica reibt sich die Augen. Aber Hauptsache, ihr Sohn kommt klar mit der Situation, dass sie kein eigenes Heim haben. Manchmal, sagt sie, würden sie abends zusammensitzen und über ihren Traum reden.

    "Ein eigenes Apartment. Ein Apartment. Ein schönes Apartment. Vielleicht eine Gehaltserhöhung bei meinem Job. Mir macht es nichts aus, hier im Asyl zu leben. Aber: Einfach mal so lange im Bett bleiben zu können, wie ich möchte. Einfach entspannen und Fernsehen - das vermisse ich schon. Hier ist ja alles reglementiert. Es gibt feste Zeiten, wann wir unser Zimmer verlassen - und wann wir wieder da sein müssen. Wenn ich nicht arbeite oder am Wochenende dürfen wir tagsüber nicht hier bleiben. Normalerweise gehen wir dann in den Park oder fahren Bus."