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Globale Konkurrenz

" Ladies and Gentlemen, the National Anthem of the Republic of China. "

Von Astrid Freyeisen und Georg Schwarte | 22.08.2006
    Der chinesische Präsident Hu verzog keine Miene. Gerade hatte der Ansager im Weißen Haus die Hymne von Taiwan angekündigt, nicht die der Volksrepublik China. Eine peinliche Panne gleich zu Beginn des ersten offiziellen Besuchs des chinesischen Staatschefs in Washington. Über ein Jahr hatten die Protokollchefs beider Staaten an jeder Kleinigkeit gefeilt, jetzt aber schien alles aus dem Ruder zu laufen. Augenblicke später, Präsident Hu hatte gerade mit seiner Rede begonnen, da unterbrach eine Frau auf der Pressetribüne den chinesischen Gast.

    Minuten lang brüllte die Anhängerin der in China verbotenen Falung-Gong-Sekte, die sich als Journalistin Zugang zum Rosengarten des Weißen Hauses verschafft hatte, ihre Parolen in Richtung des verdutzten chinesischen Präsidenten. Gastgeber George W. Bush schaute betreten drein, entschuldigte sich später bei seinem Gast für die Peinlichkeit. Die amerikanischen Fernsehsender übertrugen den Zwischenfall ebenso live wie die Proteste Hunderter Demonstranten vor dem Weißen Haus.

    Was in Washington jeder im Fernsehen verfolgen konnte, kam 15.000 Kilometer weiter östlich ganz anders an. In keinem der chinesischen TV-Kanäle war etwas zu sehen vom Protest gegen Hu Jintao. Das ist nicht überraschend. Erstaunlich ist viel mehr, dass die Medien über den Besuch insgesamt nur sehr nüchtern berichtet haben, obwohl Hu vom reichsten Mann der Welt, Bill Gates, hofiert worden ist. Diese Begegnung hätte als Beweis für Chinas neue Rolle präsentiert werden können. Aber es gab kein Interview mit Hu, keins mit Gates, als einzige durften amerikanische Schulkinder etwas Stimmung verbreiten:

    " Hallo Präsident Hu, wir sind Schüler der internationalen Grundschule von Seattle Stanford. Willkommen in Seattle. "

    Am Nachmittag besuchte Präsident Hu das Hauptquartier von Microsoft. Dort traf er Bill Gates. Sie begrüßten sich per Handschlag. Alle Microsoft-Mitarbeiter standen dabei und klatschten. Gates sagte, Microsoft habe sehr gute Beziehungen zu China. Das Unternehmen setze auf Innovation, das gelte auch für die Politik der chinesischen Regierung. Gates lobte die Fortschritte Pekings beim Schutz geistigen Eigentums.

    Während Bill Gates seinem chinesischen Gast und gutem Kunden in Seattle die Hand schüttelt, schütteln die Abgeordneten im amerikanischen Kongress in Washington die Köpfe. Anhörung im Repräsentantenhaus, auf der Anklagebank: Vertreter von Microsoft, Google, Yahoo und Cisco-Systems. Die High-Tech-Branche der USA ist den chinesischen Verlockungen längst erlegen. 110 Millionen Internetkunden, der zweitgrößte Markt der Welt. Da sind selbst die Großen der Branche zu Zugeständnissen bereit. Google blockiert im Auftrag und auf Anordnung der chinesischen Regierung unliebsame Internetseiten, Yahoo liefert Internet-Adressen von Regimekritikern. Microsoft und Cisco versorgen ein autokratisches System mit Hochtechnologie. Das Verhältnis der amerikanischen Multis zu China ist nur ein Beispiel für die von Widersprüchen und Doppelmoral geprägten amerikanisch-chinesischen Beziehungen. Jack Krumholz, Microsoft-Lobbyist in Washington, versucht skeptischen Abgeordneten zu erklären, warum sein Konzern die Kooperation mit China als "Mittel zur Demokratisierung" versteht:

    " Das Internet hat die wirtschaftliche, politische und kulturelle Landschaft Chinas längst verändert. Es ist wichtig, dass die größten US-Anbieter hier weiter vertreten sind."

    Der Abgordnete Tom Lantos, ein Demokrat aus Kalifornien, sieht die Dinge anders. Microsoft, Google und Yahoo veränderten nicht, wie behauptet, China, sondern umgekehrt: China habe längst die Konzerne verändert:

    Tom Lantos ist 78 Jahre alt, in Budapest geboren. Er hat den Holocaust überlebt. Damals, sagt er, hätten Konzerne wie IBM den Nazis Adressen von Juden gegeben und damit Menschen ausgeliefert. Heute unterstützten amerikanische Firmen ein diktatorisches Regime in China. Das sei eine Schande, so der weißhaarige Abgeordnete. Er verstehe nicht, wie die Vorstandsvorsitzenden dieser Konzerne noch ruhig schlafen könnten.

    Einer dieser Vorstandschefs ist Elioth Schrage. Der Vizepräsident von Google sieht sich und seinen Konzern plötzlich im Kreuzfeuer amerikanischer China-Kritiker. Er wundert sich, dass das Land, das den Kapitalismus erfunden hat, im Umgang mit China plötzlich die Moral entdeckt.

    " Selbstzensur, zu der wir jetzt in China gezwungen sind, ist etwas, das grundlegend gegen unser Selbstverständnis verstößt. Aber in einer Welt, die nicht perfekt ist, mussten wir eine den Umständen entsprechende Entscheidung treffen. Wir glauben, dass unsere Entscheidung besser für das chinesische Volk ist und besser für Google."

    Viele amerikanische Abgeordnete sehen das anders. Selten war die Rhetorik gegenüber China schärfer, selten die Angst vor einem erwachenden chinesischen Riesen größer. Chris Smith ist Republikaner, Parteifreund von Präsident Bush und Vorsitzender des Ausschusses für internationale Beziehungen. An die Vorstandschefs von Google, Microsoft und Yahoo richtet er die Frage:

    " Wissen Sie eigentlich, wie verbreitet Folter in China ist? Propaganda und Geheimpolizei sind auch in China die Säulen der Diktatur."

    "China-Saison" nennt Daniel Ikenson die aufgeregten Töne im Kongress. Ikenson sitzt im konservativen amerikanischen Enterprise-Institut und ist in dieser Denkfabrik für die amerikanisch-chinesischen Beziehungen zuständig.

    " Die Angst ist groß - was die Beziehungen zwischen beiden Ländern angeht. Die Tonlage wird immer schriller, die Anti-China-Stimmung wächst, vor allem im Kongress."

    Wer dieser Tage Amerikaner nach ihrem China-Bild fragt, bekommt selten Positives zu hören:

    " China ist eine immense Herausforderung - und die wird in den nächsten Jahren noch größer.

    Wenn ich an China denke, dann denke ich an die riesige Armee. Ich habe zwar keine Angst, aber sie könnte irgendwann eine Bedrohung sein. Ansonsten fällt mit nichts Positives zu dem Land ein.

    Mir fällt die Philosophie von Konfuzius ein und im Augenblick vor allem das riesige Handelsdefizit mit China."

    Shanghai, die Stadt, die vor 160 Jahren der erste chinesische Handelshafen für die USA wurde. Erzwungen durch Verträge nach englischem Vorbild, die die Amerikaner den Chinesen diktierten. Als Druckmittel hatten sie Kanonenboote geschickt. Fortan arbeiteten Amerikaner in Shanghai nach amerikanischem Recht. Für China bedeutete dies eine Schmach. Doch die scheint heute vergessen. An einem sonnigen Morgen im Shanghaier Volkspark:

    " Wir nennen dieses Eck hier English Corner. Es ist ein sehr berühmter Ort. An Sonntagen kommen die Leute zusammen und üben Englisch.

    Europa und China - das ist die zweitwichtigste Beziehung der Welt. Die wichtigste: China und die USA. Unser Verhältnis zu den USA ist sehr positiv, das ist wichtig für den Weltfrieden, für das Wirtschaftswachstum, weil wir so viel gemeinsam haben. "

    " Ich finde, wir sollten mit Amerika befreundet sein: ein Traum, eine Welt - olympischer Geist. Ich denke, es ist wie mit Nachbarn. Wenn wir Salz brauchen, holen wir es von ihnen und umgekehrt. Die Beziehungen müssen nicht einmal besonders eng sein. Man muss sich aber helfen, wie Nachbarn das tun."

    " Die USA - ein Land der Freiheit, der Demokratie. Die Amerikaner sind sehr warmherzig und kreativ. "

    Es war eine Szene mit Symbolcharakter. Weit weg von Washington mitten in einem boomenden Industriekomplex im Herzen Amerikas wollte Präsident Bush in einem landesweit ausgestrahlten Fernsehauftritt über die Erfolge seiner Wirtschaftspolitik sprechen. Die Kulisse: ein Warenlager, ein Umschlagplatz amerikanischer Handelsgüter. Hinter dem Rednerpult eine Wand aus gestapelten Industriekartons. Erst in letzter Minute fiel dem Protokollchef des Weißen Hauses der blaue Stempel auf den Pappkartons auf. "Made in China". Hundertfach zu lesen hinter einem Präsidenten, der die amerikanische Wirtschaft loben wollte. Hastig überklebten Mitarbeiter des Weißen Hauses, was Thea Lee, Chefökonomin des amerikanischen Gewerkschaftsverbandes AFL, als traurige Tatsache bezeichnete. "Made in China" verdränge allmählich die amerikanischen Produkte aus den Regalen:

    " Wir haben ein 202 Milliarden Dollar großes Handelsdefizit mit China. Das ist das weltweit größte, das es je zwischen zwei Staaten gegeben hat. "

    Thea Lee kann und will ihre chinesische Herkunft nicht verleugnen. Ihr Vater war vor Jahren mittellos in die USA eingewandert. Aber als Chefökonomin der mächtigsten US-Gewerkschaft sieht sie in China derzeit vor allem eines: eine Bedrohung für die amerikanischen Arbeiter.

    " Wir haben fast drei Millionen Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe verloren, allein mehr als eine Million davon an China. Die amerikanischen Arbeitnehmer müssen mit Kollegen in China konkurrieren, die keine Rechte haben. "

    Den Einwand, die Arbeitplätze in den USA wären auch ohne Chinas boomende Wirtschaft verloren gegangen, lässt sie nicht gelten.

    " Einige der abgeschafften Jobs stammen natürlich aus dem arbeitsintensiven Niedriglohnsektor. Aber wir haben ein riesiges Handelsdefizit auch bei Hochtechnologieprodukten von 40 Milliarden Dollar. Wir reden also auch über den Verlust hoch qualifizierter, gut bezahlter Jobs."

    Für Daniel Ikenson, den konservativen China-Experten im Enterprise-Institut dagegen, ist das Handelsdefizit nur eine Zahl auf dem Papier.

    " Deutschland hat einen riesigen Handelsüberschuss, aber zwölf Prozent Arbeitslosigkeit. Japan hat einen Handelsüberschuss, aber die Wirtschaft lag bis vor kurzem am Boden. Was ist denn das wirkliche Problem mit dem Handelsdefizit?"

    Es gebe keinen Beweis dafür, dass der erwachende Riese China der wirtschaftlichen Supermacht Amerika ernsthaft schade. Die USA investierten, so Ikenson, derzeit mehr Geld in den Niederlanden als in China, beschäftigten mehr Arbeitnehmer in Deutschland als in der Volksrepublik, und nebenbei profitierten alle Amerikaner von den aus China eingeführten Waren:

    " Was viele übersehen, ist, dass die billigen Importe für uns wichtig sind. Wir haben eine Arbeitslosenquote von 4,6 Prozent, wir haben zwei Millionen neue Jobs geschaffen. Es gibt also keinen Hinweis darauf, dass der zu verteilende Kuchen kleiner wird, ganz im Gegenteil. Das chinesische Wachstum geht bisher keineswegs auf unsere Kosten."

    Wer in den USA beim größten Einzelhandelskonzern der Welt, bei Wal Mart, einkauft, weiß, wovon Daniel Ikenson spricht. Wal-Mart, der mit Kampfpreisen einen Mitbewerber nach dem nächsten aussticht, ist als privates amerikanisches Unternehmen für China der siebtgrößte Exportmarkt. Nach Ansicht des Wirtschaftsexperten Ikenson bietet China auch Chancen. Schon heute liegt die Volksrepublik bei den amerikanischen Exporten hinter Mexiko, Japan und Kanada auf Platz vier und ist der am schnellsten wachsende Markt für amerikanische Waren.

    Die Chinesen sind in der Rolle der Angeklagten. Das lassen sich die Repräsentanten der viertstärksten Wirtschaftsnation der Welt nicht gefallen. Auf Pressekonferenzen, die das Fernsehen live im ganzen Land überträgt, dürfen auch einige amerikanische Reporter ans Mikrofon. Handelsminister Bo Xilai ist natürlich auf kritische Fragen vorbereitet. Er nutzt sie gern zum Gegenangriff.

    " Sie alle wissen, dass der chinesische Export über die Jahre nicht nur bei Kleidung, Schuhen und Hüten zugenommen hat, sondern auch bei Haushaltswaren und Computern. Wir haben beobachtet, wie der Handel mit diesen Produkten jedes Jahr stark gestiegen ist. Das heißt, dass die amerikanischen Importeure, die Groß- und Einzelhändler, die Vorzüge dieser Produkte immer mehr erkennen. Sonst würden wir nicht einen solch schnellen Zuwachs verzeichnen. Auch erhalte ich positive Reaktionen der amerikanischen Konsumenten, die schon chinesische Produkte benutzen. Wenn das anders wäre, würde der chinesisch-amerikanische Handel nicht so schnell wachsen, wie wir das jetzt beobachten."

    Dass China vom Handel stärker profitiert als die USA, bestreitet auch die Regierung in Peking nicht. Allerdings sei nicht ihre angeblich künstlich unterbewertete Währung der Grund für das Missverhältnis. Chinesische Waren seien auch deshalb so billig, weil die Materialien aus anderen südostasiatischen Ländern stammten, die noch kostengünstiger produzierten. Und mit diesen Ländern habe China ebenfalls ein Handelsdefizit, das weit höher sei als der Überschuss im Handel mit den USA. Außerdem: Würde China seine Währung aufwerten, wanderte die Produktion nach Vietnam oder Bangladesh weiter. Der Shanghaier Amerika-Experte Shen Dingli:

    " Oberflächlich betrachtet, ist der chinesisch-amerikanische Handel nicht im Gleichgewicht. Die großen amerikanischen Geschäftsleute konzentrieren sich auf die Hunderte Millionen des chinesischen Milliardenvolks, die schon amerikanische Waren kaufen können. Während über das Handelsdefizit geklagt wird, wollen diese Geschäftsleute China als riesigen Markt nicht verlieren. Deshalb muss die US-Regierung Kompromisse eingehen. Wir hoffen sehr, dass uns die Kaufkraft der USA erhalten bleibt und sich die amerikanischen Konsumenten nicht abwenden."

    Deshalb schickte Präsident Hu Jintao zunächst seine Stellvertreterin Wu Yi durch 13 US-Bundesstaaten und verteilte Geschenke: Aufträge im Wert von 16 Milliarden Dollar. Am prestigeträchtigsten war der Kauf von 80 Flugzeugen. Hu Jintao weiß, dass China noch lange nicht auf dem technologischen Stand der USA ist. Dennoch hat China ein ehrgeiziges Ziel: Unter den 500 weltgrößten Firmen sollen 50 chinesische sein. Derzeit sind es 17.

    Wenn Präsident Bush in diesen Tagen über China spricht, dann nicht als erstes über den Schutz der Menschenrechte, sondern über den Schutz des geistigen Eigentums. "Kopierzentrale der Welt" nennen frustrierte amerikanische Industriebosse die Volksrepublik China mittlerweile. Die Stärke der USA ist Innovation: neue Technologie, produktivere Herstellungsverfahren. Das fällt unter die Kategorie geistiges Eigentum. Es ist die Säule der Wirtschaftsmacht Amerika. Eine Säule, die durch geistigen Diebstahl mittelfristig gefährdet sei, sagt Daniel Ikenson.

    " Wir sollten uns überlegen, welche Schlachten wir schlagen wollen. Statt über alles zu klagen, sollten sich die USA auf die Bekämpfung des Ideenklaus konzentrieren."

    Die US-Regierung hat neben Handelsungleichgewicht, Produktpiraterie und Menschenrechten längst ein weiteres - weit gefährlicheres - Konfliktfeld ausgemacht: die militärische Aufrüstung der Volksrepublik. Der ehemalige CIA-Chef Porter Goss sagte jüngst bei einer Anhörung im Senat:

    " Die Modernisierung der chinesischen Armee bedroht unsere Streitkräfte und Interessen. Die Politik sollte darüber nachdenken. "

    Das US-Verteidigungsministerium hat das längst getan. Seit Monaten werden die Streitkräfte im Pazifik neu organisiert. Künftig sollen vier statt zwei Flugzeugträgerverbände in der Region einsatzbereit sein. Atom-U-Boote werden nach Guam verlegt, Marinebasen außerhalb der Reichweite chinesischer Raketen errichtet. Im jüngsten Bericht über den Zustand des chinesischen Militärs hat das Pentagon selbst erfahrene Analysten überrascht. Danach hat China die Zahl der auf dem chinesischen Festland gegenüber von Taiwan stationierten Soldaten binnen eines Jahres um 25.000 erhöht, außerdem mehr Panzer und mehr Raketen in Stellung gebracht. Offiziell gibt China 35 Milliarden Dollar pro Jahr für die Verteidigung aus. Das Pentagon spricht von 70 bis 105 Milliarden Dollar. Ted Fishman, Autor eines Buches über die erwachende Supermacht China, warnt vor Illusionen:

    " Die USA und China sind Rivalen. Und die Frage derzeit ist, ob es bei der wirtschaftlichen Rivalität bleibt. Im Moment dominieren die USA den pazifischen Raum auch militärisch. Das ist eine Situation, die China nicht auf ewig tolerieren wird."