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Globalisierung in Indien

India Shining – Indien glänzt – so lautet der Slogan einer Serie großformatiger Zeitungsanzeigen, mit der die Zentralregierung in New Delhi wenige Monate vor anstehenden Parlamentswahlen gute Stimmung im Volk verbreiten will. Besonders schwer fällt das zur Zeit nicht, denn die indische Wirtschaft boomt wie nie zuvor. Das Wachstum hat sich bei rund 6 Prozent stabilisiert. Die junge Software-Industrie zieht Millionen-Aufträge aus den USA und Europa an. Indiens Dollar-Reserven erreichen neue Rekordhöhen. Innerhalb des vergangenen Halbjahres ist der Aktienindex Sensex um mehr als die Hälfte seines Wertes nach oben geklettert. Die wohlhabender gewordene Mittelklasse frönt dem Konsum, die Elite träumt unverblümt von der neuen Großmacht Indien.

Von Rainer Hörig |
    Doch während die einen von Autobahnen und Mercedes-Limousinen schwärmen, sorgen sich andere um ihre nächste Mahlzeit. Mehr als ein Viertel der mehr als eine Milliarde Inderinnen und Inder leben unter der offiziellen Armutsgrenze, nahezu die Hälfte aller Kinder sind unterernährt. Bauern trinken giftige Pestizide, weil ihnen Selbstmord als einziger Ausweg aus permanenter Verschuldung erscheint. Während die staatlichen Lagerhäuser mit Getreidevorräten von mehr als sechzig Millionen Tonnen überquellen, werden aus den Armenhäusern des Landes, den Unionsstaaten Orissa, Bihar, Madhya Pradesh und Rajasthan Jahr für Jahr mehrere hundert Hungertote gemeldet. Die Katastrophe betrifft vor allem Angehörige indigener Volksstämme sowie landlose Bauern.

    Der Boom in der Software-Branche wird hier gerne als Erfolgsbeweis für die Strategie der Globalisierung angeführt. Doch kann ein einziger, von ausländischen Aufträgen abhängiger Wirtschaftssektor das Riesenland von Hunger und Armut befreien? Zwar bringen ausländische Investoren neue Technologien ins Land, aber dieser Fortschritt bildet vorerst nur kleine Inseln des Wohlstandes. Auf der anderen Seite verdirbt der neue internationale Wettbewerb die Erzeugerpreise für Bauern und Fischer, zwingt die Industrie zur Rationalisierung, also auch zu Betriebsschließungen und Entlassungen. Durch den Bau neuer Straßen, Häfen und Industrieparks verlieren Millionen Menschen ihr Land und damit die Lebensgrundlagen. Die meisten der Vertriebenen enden in den Slums der Großstädte.

    In Indien gegen die Globalisierung zu sein, hat nichts Außergewöhnliches. Weder Politiker noch Industrielle wagen es, sich öffentlich für eine ungebremste Globalisierung einzusetzen. Seitdem muslimischer und hinduistischer Fundamentalismus die Gesellschaft immer tiefer spaltet, bleibt der aus Hunderten von Ethnien, Tausenden von Sprachgemeinschaften und Zigtausenden von Kasten zusammen gesetzten Nation nur noch ein gemeinsamer Nenner - die Tradition des antikolonialen Freiheitskampfes. Die auch fünfundfünfzig Jahre nach dem Abzug der Kolonialherren noch nicht vollständig abgeklungene Wut auf den "Westen" nährt eine öffentliche Wachsamkeit gegenüber jedem Versuch, die mühsam gewonnene Freiheit zu untergraben. Multis etwa haben es nicht leicht in Indien.

    In breiten Bevölkerungskreisen schwelt Unmut, grassiert die Furcht vor einer neuen Kolonisierung. Auch die Engländer seien zunächst mit der Absicht gekommen, Handel zu betreiben, heißt es. Politische Gruppen von rechts-außen bis links rufen zum Protest. Während religiöse Fundamentalisten die alten Werte beschwören und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften zum Sündenbock stempeln, organisieren Bürgerinitiativen die Armen zum gewaltfreien Widerstand. Bauern protestieren gegen subventionierte Agrarimporte aus Europa und den USA. Gewerkschaften kämpfen gegen die Privatisierung der Strom- und Trinkwasserversorgung und den Verkauf großer Staatsunternehmen. Aus Protest gegen die angebliche Raubfischerei internationaler Fabrikschiffe blockieren Fischer wichtige Häfen. Angehörige indigener Volksstämme, in Indien Adivasi genannt, wehren sich gegen Staudamm- und Bergwerkprojekte auf ihrem Land.

    Doch angesichts der jüngsten Rekordzahlen, fällt es den Bürgergruppen immer schwerer, in der Öffentlichkeit Sympathie für ihre Anliegen zu erregen. Das in diesen Tagen in der Hafenstadt Mumbai, früher Bombay stattfindende Weltsozialforum, die jährliche Konferenz von Globalisierungsgegnern aus aller Welt, wird diesen Protestbewegungen neue Impulse geben.