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Globalisierung und sozialer Anspruch

Durch die Öffnung Europas nach Osten hat sich der Wirtschaft ein schier unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften geöffnet. Und die Fleischindustrie bedient sich nach Belieben: 80 Prozent der Arbeiter kommen inzwischen aus Osteuropa. Doch auch in anderen Branchen sind die starken Veränderungen spürbar. Für viele ist es deshalb schwer verständlich, dass der europäische Binnenmarkt auch ein Sozialprogramm sein soll.

Von Gerhard Schröder | 14.02.2007
    "Man kommt jeden Tag hier an und denkt: ist das noch mein Arbeitsplatz oder steht da schon jemand anders am Band oder an der Maschine. Man hat keine Sicherheit, dass man was planen kann. Man denkt immer: Bin ich morgen noch im Betrieb oder bin ich nicht mehr im Betrieb. "

    Der junge Mann arbeitet in einem Schlachthof im Emsland. Täglich werden hier knapp 6000 Schweine geschlachtet und zerlegt. Ein harter Job mit kärglicher Entlohnung. 7 Euro 50 gibt es pro Stunde. Der Geschäftsleitung ist das noch immer zuviel. Osteuropäische Leiharbeiter sind billiger. Deshalb fürchten viele Arbeiter um ihren Job - und möchten daher auch anonym bleiben.

    "Jetzt hat sich das so langsam gesteigert, die Grenzen sind offen, jeder kann rein. Und jetzt werden wir so langsam vom Markt gedrückt, das geht doch nicht. Sind wir denn nicht mehr in Deutschland, oder wo sind wir denn. Ich verstehe das nicht, das kann doch nicht wahr sein. "

    "Dat is sein Vorhaben, dass das aufn Subunternehmer rausgeht. Und dass er die eigenen Beschäftigten rauskriegt. Dass er da machen kann, was er will. Dann kann er 15 und 20 Stunden schlachten lassen. So sieht das aus."

    Ein harter Verdrängungswettbewerb hat eingesetzt: Die Fleischindustrie schleust seit Jahren über Subunternehmer billige Arbeiter aus Polen, Tschechien oder der Slowakei ins Land. Die müssten dann unter erbärmlichen Bedingungen in den Fleischfabriken schuften, sagt Mathias Brümmer von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss und Gaststätten in Oldenburg:

    "Nach unserer Einschätzung ist das organisierter Menschenhandel, fast schon Sklavenhandel wie im alten Rom, nur dass die Leute freiwillig kommen. Ihnen werden hohe Einkünfte versprochen. Kostenlose Verpflegung und kostenloses Wohnen. Die kommen hier voller Erwartung rüber und erleben hier das ganze Gegenteil. Minimalste Löhne, keine kostenfreie Verpflegung, keine kostenfreie Unterkunft. Häufig bekommen sie keinen Lohn ausgezahlt. Es gibt hier immer wieder wilde Streiks, und dann werden sie nach Hause gejagt, und dann stehen nächsten Tag die nächsten Ersatzkräfte hier. "

    Durch die Öffnung Europas nach Osten hat sich der Wirtschaft ein schier unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften geöffnet. Und die Fleischindustrie bedient sich nach Belieben: 80 Prozent der Arbeiter kommen inzwischen aus Osteuropa, schätzt der Gewerkschafter Mathias Brümmer. Die Folge ist Lohndumping auf breiter Front. Auch die Bauwirtschaft, die Gebäudereiniger, Hotels und Gaststätten nutzen die Vorteile des offenen Europas. Bundesweit bekannt wurde eine Putzfrau in Hamburg, die nicht einmal zwei Euro pro Stunde bekam - und gefeuert wurde, als sie sich darüber beklagte. Etwas läuft falsch im vereinten Europa, meint Klaus Wiesehügel, er ist Vorsitzender der Industriegewerkschaft Bauen Agrar Umwelt. Die Architekten hätten die Beschäftigten vergessen, als sie das europäische Haus entwarfen.

    "Das europäische Haus muss von allen gleichmäßig bewohnt werden, also von den Arbeitnehmern wie den Arbeitgebern auch. Aber nach wie vor hat man uns den Keller zugewiesen. In den ganzen Dingen, die uns vorgestellt werden, geht es eigentlich immer nur um eine Marktliberalisierung, geht es darum, dass es ein freier Zutritt an allen Märkten ist, dass es keine Sperrung und keine Hinderung geben darf für die Anbieter, für die Unternehmer. "

    Deshalb fordern die Gewerkschaften soziale Mindeststandards, einheitliche Mindestlöhne zum Beispiel, die auch für ausländische Leiharbeiter gelten. Am Bau sei damit in den vergangenen Jahren Schlimmeres verhindert worden, sagt Gewerkschaftschef Wiesehügel:

    "Hätte es den Mindestlohn in der Krise nicht gegeben, wäre der Abbau der Arbeitsplätze wahrscheinlich noch wesentlich größer gewesen. Denn der hat also schon ein großes Stück reguliert. Wir haben in weiten Bereichen, zum Beispiel im Osten unseres Landes, die Dinge auffangen können, sonst wären die Löhne ins Bodenlose gefallen."

    Auch Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftspolitik in Mannheim, sieht die Verwerfungen, die das große Wohlstandsgefälle in Europa auslöst. Aber er bezweifelt, dass das Problem per Verordnung in den Griff zu bekommen ist.

    "Das alles abzuschotten, nutzt nichts. Nehmen Sie das Beispiel der Schlachter, die kommen und zu niedrigen Löhnen bei uns anbieten. Was passiert denn, wenn wir diesen Kanal zumachen. Dann werden die Schweine auf den LKW geladen und werden in Polen geschlachtet. Und schon hat uns der Lohndruck wieder erreicht. "

    Der könne nur vermindert werden, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich in Europa verkleinert werde. Das werde aber gelingen, wenn man den Nachzüglern Türen öffne und nicht verschließe.

    "Man kann auf das Soziale abzielen in direkter und indirekter Weise. Direkt würde heißen: Wir machen europäische Sozialgesetze und indirekt würde heißen: Dadurch, dass wir den Binnenmarkt schaffen, der Arbeitsgelegenheit schafft, der Menschen auch Freizügigkeit einräumt, leisten wir indirekt etwas Soziales dass zum Beispiel Arbeitsplätze in exportorientierten Unternehmen ein Stück sicherer werden, das ist ja auch sozial. Und ich denke, der Binnenmarkt war immer sozial, aber eher auf indirekte Art und Weise."

    So sahen das auch die Gründerväter, als sie vor über einem halben Jahrhundert mit der Montan-Union die europäische Einigung in Gang brachten. Nach den verheerenden Kriegen in Europa sollte eine stärkere wirtschaftliche Zusammenarbeit den Frieden festigen und Wachstum und Wohlstand bringen. Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer:

    "Nur ein immer festerer Zusammenhalt unserer sechs Staaten gewährleistet uns allen die Sicherung unserer freiheitlichen Entwicklung und unseres sozialen Fortschritts. Natürlich genügt dazu nicht der Buchstabe von Verträgen. Sie müssen mit Leben erfüllt werden. Wir wissen dabei um den Ernst unserer Lage, aus der nur die europäische Einigung hinausführt. "

    Als vor 50 Jahren die Römischen Verträge unterzeichnet wurden, war ihr wichtigstes Ziel deshalb, die Handelshemmnisse in Europa zu beseitigen: Eine Freihandelszone sollte entstehen, in der sich Waren, Kapital, Menschen und Dienstleistungen frei bewegen könnten. Das sollte die Wirtschaft beflügeln und neue Jobs bringen. Aber auch soziale Schutzrechte spielten eine Rolle, sagt Gerhard Michael Ambrosi, Professor für Europäische Wirtschaftspolitik in Trier.

    "Es ist nicht nur die Gleichbehandlung von Mann und Frau, sondern es ist auch die Einführung eines bezahlten Urlaubs, bestimmte Regelungen bezüglich der Arbeitszeit, und das hat eine unwahrscheinliche Durchschlagswirkung auch auf nationale Regelungen gehabt. Von daher haben wir schon in den Anfängen der europäischen Integration wichtige soziale Komponenten, obwohl die europäische Integration eben nicht sozial ausgerichtet ist, sondern das Soziale nur ein Beiwerk beim Kommerziellen war. "

    Die Zollunion machte rasche Fortschritte, bis 1968 waren alle Binnenzölle verschwunden, die den Warenverkehr zuvor noch behindert hatten. Das kurbelte die Wirtschaft mächtig an, ein Erfolg, der anziehend machte: Irland, Großbritannien und Dänemark traten der Gemeinschaft 1973 bei. Die sozialpolitischen Anstrengungen dagegen waren weniger zielstrebig. So wurde zwar ein Fonds aufgelegt, der strukturschwachen Regionen wie dem Mezzogiorno in Süditalien helfen sollte. Ansonsten blieb es dabei: Sozialpolitik ist nationale Angelegenheit, da mischt sich Brüssel nicht ein. Erste Zweifel an dieser Strategie regten sich Ende der siebziger Jahre. Die Wachstumseuphorie in Europa war verflogen, Preise und Arbeitslosigkeit schnellten in die Höhe. Die Gemeinschaft war ratlos, konstatierte besorgt der Luxemburger Gaston Thorn, von 1981 bis 85 Präsident der Europäischen Kommission.

    "Man hat sich noch nicht, was Währung, was Wirtschaft, was Konjunkturbelebungspolitik, was Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, gegen Inflation, zu einer wirklich gemeinschaftlichen Politik durchgerungen, und ich fürchte, wenn das noch lange andauert, dann werden uns die Bürger draußen hierauf urteilen und sagen: in dieser schweren Lage, bei praktisch zehn Millionen Arbeitslosen, was tut die Wirtschaftsgemeinschaft?"

    Zunächst nicht viel. Die Sozialpolitik blieb ein Stiefkind - auch als Europa Ende der achtziger Jahre wieder Fahrt aufnahm in Richtung des gemeinsamen Binnenmarktes. Die Idee der Gründerväter rückte in Reichweite. Ein Meilenstein, jubelte der christdemokratische Europa-Abgeordnete Elmar Brok:

    "Der europäische Binnenmarkt ist für sich ein soziales Programm. Er schafft durch die größeren Wachstumsmöglichkeiten, durch die Beseitigung der Handelshemmnisse Wachstum und Arbeitsplätze. "

    Im Gewerkschaftslager sah man die Entwicklung kritischer. Wo bleibt der Schutz der Arbeitnehmer, fragte Ursula Engelen-Kefer vom Deutschen Gewerkschaftsbund.

    "Ich würde es für unabdingbar halten, wenn wir Freizügigkeit in Europa verstärken, dass dann hier Mindeststandards möglichst schnell verabschiedet werden. Es gibt ja schon einen Teil, die müssten verbessert werden. Wir haben bereits eine Richtlinie, glaube ich, zur Teilzeitarbeit und auch zur Leiharbeit, diese sind aber bei weitem nicht zugkräftig genug, um hier zu verhindern, dass durch grenzüberschreitende Arbeitskräfte Wanderungen die Standards in einzelnen Ländern unterwandert werden. "

    Dass es Schutzrechte geben muss, bestreiten auch wirtschaftsliberal orientierte Ökonomen wie Friedrich Heinemann nicht. Aber er legt die Messlatte etwas niedriger an als die Gewerkschafterin - und setzt mehr auf die Kraft des Wettbewerbs:

    "Ich halte eine ganze Reihe von Schutzrechten für unabdingbar. Den Arbeitsschutz zum Beispiel, es kann nicht sein, dass ein Land deshalb wettbewerbsfähiger ist, weil es die Gesundheit seiner Arbeitnehmer mit Füßen tritt. Kinderarbeit wäre ein weiteres, sehr extremes Beispiel, was in der EU zum Glück keine Rolle mehr spielt, oder auch Dinge wie Umweltdumping, also dass ein Land deshalb wettbewerbsfähig ist, weil es sagt, bei uns kann man den Dreck halt ins Abwasser lenken. Das sind alles Dinge, die können wir nicht zulassen, die sind kein sinnvoller Wettbewerb. Da brauchen wir in der Tat auch ein starkes Europa. "

    Die Botschaft kam auch in Brüssel an. In der 1989 verabschiedeten Sozialcharta wurden erstmals soziale Grundrechte verankert, zum Beispiel der Anspruch auf Mitbestimmung im Betrieb oder auf ein Mindesteinkommen für Arbeitslose und Rentner. Den Briten gingen aber auch diese vagen Absichtserklärungen schon zu weit - sie unterzeichneten die Sozialcharta erst zehn Jahre später, als sie Teil des Amsterdamer EU-Vertrages wurden. An der grundsätzlichen Haltung der Briten hat sich aber bis heute nichts geändert. Die Steuer- und Sozialpolitik ist nationale Sache, da muss sich Brüssel raushalten, so das Credo von Regierungschef Tony Blair:

    "Die Wirtschaftspolitik bleibt in der Kontrolle der Nationalstaaten. Das Veto in der Steuerpolitik bleibt bestehen, Steuern können also nicht harmonisiert werden. Das Veto in der Sozialpolitik bleibt. Dies ist ein Europa der Nationalstaaten, die kooperieren, und es ist bestimmt kein föderaler Superstaat."

    Die Frage, welche Aufgaben der Sozialstaat erfüllen muss, beantworten die Mitgliedsländer sehr unterschiedlich - und das macht die Suche nach Kompromissen schwierig. Das zeigt der Streit um die Mitbestimmung. Die spielte beim Vorhaben, eine Europäische Aktiengesellschaft zu schaffen, eine wichtige Rolle. Dabei musste geklärt werden, welche Mitspracherechte die Arbeitnehmer bekommen sollen. Erst nach über 30 Jahren fand man eine Lösung. Der Wirtschaftsforscher Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hält daher nicht allzu viel vom Drang nach Einheitlichkeit:

    "Es geht natürlich weiter, wenn Sie fragen: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder die Frage, in welchem Alter man in Rente geht. Oder all diese Fragen: wie ist das soziale Sicherheitssystem ausgestattet, wie großzügig ich einen Arbeitslosen absichere. Da haben wir ganz unterschiedliche Vorstellungen in Europa. Die Skandinavier sagen, wir müssen ihn sehr stark absichern, die Briten, ein demokratisches Land, sagen, nein, wir wollen stärkere Arbeitsanreize, wir geben denen so eine kleine Notfallabsicherung mit. Das ist ein Spektrum an Meinungen, das man respektieren muss und wo wir auch unterschiedliche Präferenzen für Europas Bürger haben, da ist überhaupt keine Chance, das zu vereinheitlichen. "

    Vor einem Jahr traten die Arbeiter im AEG-Werk in Nürnberg in den Streik. Der schwedische Konzern Elektrolux wollte die Produktion von Waschmaschinen und Kühlschränken nach Polen verlagern, obwohl der Betrieb in Nürnberg profitabel arbeitete. Denn in Polen sind die Lohnkosten niedriger und die Gewinnaussichten höher. Die Beschäftigten, die bereit waren, für weniger Geld länger zu arbeiten, waren empört: Nutzt das grenzenlose Europa nur den Konzernen? Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt widerspricht energisch:

    "Gerade wir profitieren von der Europäischen Union. Sie trägt zu Wachstum, zu Wohlstand und zu Beschäftigung bei. Die europäische Einheit ist für Deutschland, die deutsche Politik und die deutsche Wirtschaft von geradezu existenzieller Bedeutung."

    Von den neuen Märkten im Osten weht aber auch ein scharfer Wind herüber. Denn nicht nur die Löhne sind dort niedrig, sondern auch Steuern und Sozialabgaben - und das setzt das alte Europa unter Druck. Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme wird zum Wettbewerbsfaktor und die Senkung der Lohnnebenkosten in Ländern wie Deutschland zu einer zentralen nationalen Aufgabe, die mit Agenda 2010 und Hartz-Reformen ihre Umsetzung erfuhr. Arbeitsminister Franz Müntefering will das nicht überbewerten. Er verweist auf den Beitritt von Portugal und Spanien 1985. Der löste auch große Bedenken aus, weil die Kluft zu den Etablierten groß war - die rasche Aufholjagd der Iberer beruhigte die Skeptiker aber rasch. Könnte es so nicht auch mit den neuen Mitgliedern im Osten laufen?

    "Was wir erreichen müssen, ist, dass die neuen Länder zu Handelspartnern werden und in ihren Ländern durch Wachstum und durch Entwicklung die Löhne und die Lebensverhältnisse sich stärken und damit auch die Tendenz aus den Ländern wegzugehen in andere europäische Länder hinein geringer wird."

    Der Blick in die Boomregionen Osteuropas zeigt, dass das kein bloßes Wunschdenken sein muss. In Bratislava, Prag oder Warschau sind die Löhne schon spürbar in die Höhe geschnellt.

    Zehntausende gingen vor einem Jahr in Berlin und Straßburg auf die Straße, um gegen die Pläne des früheren Binnenmarkt-Kommissars Fritz Bolkestein zu protestieren. Der wollte den grenzüberschreitenden Austausch von Dienstleistungen weitgehend liberalisieren. Denn nach wie vor gibt es da viele Barrieren, mit denen die Staaten ihre Märkte abschotten. Holger Kunze vom Verband des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus nennt Beispiele:

    "Zum Beispiel der Werkzeugmaschinenhersteller aus Deutschland, der seine Techniker nach Frankreich entsenden möchte, um dort Wartungsarbeiten an einer Maschine durchzuführen, muss sich zuvor bei einer französischen zuständigen Behörde anmelden, egal, wie lange diese Wartungsarbeiten dauern, selbst wenn sie nur ein paar Stunden dauern. Das gleiche gilt in Belgien. In Luxemburg geht es sogar soweit, dass die Unternehmen einen Zustellungsbevollmächtigten benennen müssen - und bezahlen müssen, versteht sich - wo sie entsprechende Dokumente im Hinblick auf die Arbeitnehmer, die dorthin geschickt werden, hinterlegen müssen."

    Bolkestein wollte dieses Geflecht von bürokratischen Hemmnissen durch eine einfache Regelung durchschlagen: das Herkunftsland-Prinzip. Ein Schreiner aus Aachen sollte sich gar nicht um die belgischen Vorschriften kümmern müssen, sondern einfach nach deutschen Konditionen anbieten. Eine Idee, die der Wirtschaft enorme Impulse geben könnte, meinten Wirtschaftsforscher. Kritiker wie der Gewerkschaftschef Klaus Wiesehügel dagegen fürchteten Sozialdumping auf breiter Front.

    "Dann hätten wir in der Tat die Situation gehabt, dass in dem billigsten Land mit den schlechtesten Arbeitsbedingungen der Briefkasten aufgehängt wird, das Firmenschild angebracht wird, Arbeitnehmer angeheuert werden in ganz Europa, möglichst in armen Regionen, und da jegliche Tarifverträge und sozialen Einrichtungen damit praktisch unterlaufen und zerstört worden wären. "

    Die Brüsseler Richtlinie wurde in zentralen Punkten entschärft. Das Herkunfstland-Prinzip wurde gestrichen, entscheidend sind künftig die Konditionen in dem Land, in dem die Leistungen erbracht werden. Das nimmt der Reform die Schärfe. Die Debatte ist damit aber nicht beendet. Denn auch ohne die geplante Öffnung ist der Druck auf Beschäftigte und Löhne groß. In Deutschland sind inzwischen selbst Arbeitgeber über das Ausmaß der Erosion alarmiert. Stundenlöhne von drei oder vier Euro seien keine Seltenheit, sagt Johannes Bungert, Geschäftsführer des Bundesinnungsverbands der Gebäudereiniger. Und das macht ihm Sorge. Ein allgemeiner Mindestlohn müsse her, um die Beschäftigten zu schützen. Und dafür ist nicht Brüssel, sondern die Bundesregierung in Berlin zuständig.

    "In Deutschland kann jeder zahlen, was er will. Deutschland ist so brutal wie kein anderes Land, vorausgesetzt ich habe keine Tarifverträge. Aber wir merken gerade im Niedriglohnbereich, dass der Einfluss der Gewerkschaften doch gesunken ist in den letzten Jahren und dass hier keine vernünftige Tarifbindung mehr vorhanden ist, jedenfalls keine ernsthafte mehr. "

    In der Großen Koalition ist das umstritten. Arbeitsminister Müntefering will sich dem Drängen nicht verschließen, schließlich gibt es in den meisten EU-Mitgliedsstaaten Mindestlöhne. Wirtschaftsminister Glos dagegen hält das für schädlich. Mindestlöhne vernichteten Jobs für Geringqualifizierte.

    Wie groß der Handlungsbedarf ist, zeigt sich in den Schlachthöfen. Die meisten Arbeiter aus Osteuropa seien illegal dort beschäftigt, sagt Gewerkschaftsaktivist Brümmer, er schätzt den Anteil auf 95 Prozent. Konsequenzen hat das jedoch nicht. Denn die Schlepper nutzen eine Lücke im Gesetz: Danach reicht es schon, wenn sie ein Papier vorlegen, dass für die Leiharbeiter im Heimatland Sozialabgaben bezahlt werden. Das schützt vor weiteren Ermittlungen, selbst wenn das Papier gefälscht ist. Das hat der Bundesgerichtshof im vergangenen Herbst entschieden. Nun läuft das Geschäft mit der Ausbeutung völlig ungestört, klagt der Gewerkschafter Brümmer:

    "Um das wieder in den Griff zu bekommen, ist der erste Weg hinzugehen, hier einen Mindestlohn einzuführen, auch für diejenigen, die aus Osteuropa kommen. Die Sozialversicherungspflicht endlich hier in Deutschland einzuführen, auch für diejenigen, die aus Osteuropa kommen. Da muss die Bundesregierung endlich handeln, ansonsten sehe ich schwarz hier für den deutschen Arbeitsmarkt."