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Globalisierungspartikel der Neuzeit

Jossie Wieler inszeniert die Iphigenie als Entfremdung im Nirgendwo - wie es auch tausendfach in der Realität von Migranten aussieht. Oder, wie es Rezensent Spreng ausdrückt - als "Globalisierungspartikel der Neuzeit".

Von Eberhard Spreng |
    Iphigenie sucht das Land der Griechen mit der Seele, hat nach ihrer Opferung in Aulis noch vor dem Beginn des Trojanischen Krieges den Anschluss an die Geschichte verpasst und ist von Göttin Artemis in ihr Heiligtum bei den Tauriern versetzt worden. Sie ist also in doppeltem Sinne im Exil: Sie ist dem Land ihrer Vorfahren entrückt, sie ist aber auch für Jahrzehnte ihrer Familiengeschichte entfremdet, weiß nichts vom Ausgang des Krieges, nichts vom grausamen Mord an Agamemnon, vom Rachemord ihres Bruders Orest an der Mutter Klytaimnestra. Für dieses Seelennirgendwo hat Jossi Wieler und sein Bühnenbildner Jens Kilian einen modernen Un-Ort auf die Bühne gestellt: Nichts als eine große Böschung, eine ansteigende Rasenfläche, wie man sie an Deichen finden könnte, oder an Autobahnkreuzen- und Raststätten, wo Flüchtlinge ohne Papiere auf eine Mitfahrgelegenheit in den Westen warten. Orest mit vergammeltem Kapuzenanorak und Pylades mit seinem schäbigen Anzug über buntem T-Shirt könnten solche Migranten sein, solche Globalisierungspartikel der Neuzeit. Aber Jossi Wieler begnügt sich mit der Andeutung, lässt zwei Mal das leise Geräusch eines entfernten Flugzeugs hören und verzichtet ansonsten – heutzutage lohnt dieser Hinweis - auf jeden Schnickschnack, auf Musik, Videos, Lautsprecher, Mikroports. Das Seelendrama, das wohl handlungsärmste der deutschen Klassik, muss sich allein in der Sprache entfalten:

    "Unsterbliche, die ihr den reinen Tag
    Auf immer neuen Wolken selig lebet,
    Habt ihr nur darum mich so manches Jahr,
    Von Menschen abgesondert, mich so nah
    Bei euch gehalten mir die kindliche
    Beschäftigung des heilgen Feuer Glut
    Zu nähren aufgetragen meine Seele
    Der Flamme gleich in ewger frommer Klarheit
    Zu euren Wohnungen hinaufgezogen
    Dass ich nur meines Hauses Gräuel später
    Und tiefer fühlen sollte."

    Judith Engel spielt diese Iphigenie als eine Verstörte, die ihre von Schicksal auferlegte Ahnungslosigkeit und den Priesterdienst mit bockiger Introvertiertheit trägt. Wenn der von Burghart Klaußner verkörperte Taurer-König Thoas, dem sie die archaische Tradition der Opferung von Fremden abgewöhnen konnte, sie umwirbt, dann staksen zwei unbeholfene Körper mit steifen Gelenken und steifen Gebärden auf der Böschung umher. Das ist nicht anders, wenn Iphigenie und Bruder Orest einander zu erkennen geben, oder wenn der Königsbote, Thomas Bading, mit nervös flatternden Händen vom Zorn des enttäuschten Herrschers berichtet. Diese Menschen haben die Fähigkeit verloren, sich zu bewegen und zu berühren und auch ihre Sprache kommt stockend und unsicher aus ihren Mündern. Leicht ist es also nicht, der mit zwei dreiviertel Stunden relativ langen Aufführung zu folgen, das Seelendrama entfaltet sich eben nicht in rhetorische Jambenseligkeit sondern tastet sich unsicher in den Seelenmorast vor, an dessen Ende aber die apollinische Wende, der Sieg über die Triebe und die chthonischen Gottheiten und dem Blick in eine heitere humanistische Zukunft kaum zu gelingen scheinen.

    Es ist so, als wollte der an Elfriede Jelineks Sprachlandschaften geschulte Regisseur Goethes Seelenbildungsauftrag nur widerwillig exekutieren. Zwar steht auch bei ihm am Ende eine Iphigenie, die nicht mit der familieneigenen Lüge, List und Tücke das Land der Taurer wieder verlässt, sondern mit lauterem Herzen und hehren Argumenten den wütenden Herrscher um freien Abzug bittet. Außerdem schwatzt sie ihm das Artemisbildnis aus dem Tempel ab, damit sie es Apollo nach Delphi bringen kann, also ins spirituelle Zentrum der griechischen Welt. Ein früher Kulturtransfer zu Gunsten eines künftigen Imperiums. Aber all das löst nur Bitterkeit aus und verspricht wenig Aussicht auf künftige Völkerfreundschaft, denn Burghard Klaußners Thoas wendet sich ab, verlässt die Bühne, und sein "Lebt wohl" klingt wie ein letzter matter Fluch. Jossi Wieder zeigt, wie sich die Menschen einander entfremden und inszeniert im Nirgendwo einen skeptischen Rückblick auf den klassischen Humanismus.