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Glockenhandwerk
Himmlisches Heavy Metal

Sie rufen zum Gottesdienst, mahnen vor Gefahren und - so heißt es - bringen die Seele zum Klingen: Glocken. Hergestellt werden sie in Glockengießereien - mittlerweile eine Seltenheit in Deutschland. Einen Einblick in das Handwerk gibt die DASA, die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Dortmund.

Von Dörte Hinrichs | 28.12.2014
    Hammer neben einer Glocke in einem Ausstellungsraum. Eine Ausstellung in Dortmund gibt Einblicke in das Glockenhandwerk.
    Eine Ausstellung in Dortmund gibt Einblicke in das Glockenhandwerk. (imago/stock&people)
    Seit Jahrtausenden sind die Menschen fasziniert von diesem Klang. Noch in weiter Ferne erreicht uns ihr Ton und ist uns vertraut, aber so richtig nah kommen wir dem Klangkörper eigentlich nicht. In der Ausstellung "Heavy Metal" ist es anders: Hier gibt es keine Berührungsängste mit tonnenschweren Glocken in verschiedenen Formen und Zusammensetzungen. Hier darf man zuschlagen, zart oder kräftig mit dem Klöppel die Glockenwand berühren. Hier lässt sich mit Augen und Ohren erfahren, wie eine Glocke funktioniert und warum sie uns so fasziniert:
    "Wenn ich hier anschlage, löse ich Schwingungen in der Glocke aus, die einmal von unten nach oben verlaufen, und die ringförmig um die Glocke herum verlaufen. Und diese Schwingungen führen dazu, dass an bestimmten Stellen der Glocke, die dort von den Gießern berechneten Teiltöne erklingen. Und unser Ohr zieht diese vielen Klänge, die natürlich in der Glocke sind, innerhalb von Bruchteilen von Sekunden zu diesem einen, dem Schlagton, dem Nominalton zusammen. Und wenn die Teiltöne richtig berechnet sind und in der Glockenwandlung richtig sortiert sind, dann hören wir eben einen Schlagton und haben das Gefühl, dass hier wirklich eine wohlklingende Glocke erklingt."
    Erklärt Dr. Hendrik Sonntag, Leiter des Westfälischen Glockenmuseums in Gescher den Klang einer schweren Bronzeglocke. Die Glocken werden auf einen Sechzehntel Halbton genau gegossen. Ein Glockensachverständiger ist für die genaue Abstimmung zuständig. Mit Stimmgabeln hört er, ob innerhalb der Glocke verschiedene Töne da sind und legt das Klangvolumen fest. Rainer Esser, Geschäftsführer der Glockengießerei "Petit & -Edelbrock" in Gescher bekommt einen klaren Auftrag, wie die Glocke klingen soll:
    "Das heißt, die Gemeinde bestellt bei uns ein Cis, ein Es, ein zweigestrichenes E oder ein dreigestrichenes A wie auch immer. Der in Harmonie steht mit den Glocken, die um diese Glocken drum herum sind, aber auch in Harmonie mit den Glockentürmen, die um sie herum sind. Das muss harmonisch sein."
    Aber wie entsteht nun dieser magische Klang, der einen manchmal erschauern lässt? Wie breitet der Ton sich aus? Nicht nur hörbar, sondern auch sichtbar gemacht wird er in der Ausstellung am Beispiel einer umgedrehten Glocke.
    "Die ist mit Wasser gefüllt. Das Wasser, wenn Sie anschlagen, bildet die Schwingungen ab in der Glocke, d.h, wenn man die Glocke jetzt anschlägt, dann sehen Sie auf der Wasseroberfläche die Schwingungen, die die Glocke eigentlich in die Luft überträgt auf Wasser übertragen. Das ist sehr bildlich, sehr schön, kann man sich jetzt vorstellen, was da passiert. Das wird jetzt ein bisschen laut."
    Die Glocke als Lebensbegleiter
    Für den einen ist es Musik in den Ohren, für den anderen unzumutbarer Lärm, weshalb immer wieder Menschen gegen das Gebimmel protestieren. Schon in Goethes Faust ist für Mephisto die Glocke ein einziges Ärgernis:
    "Jedem edlen Ohr
    kommt das Geklingel widrig vor,
    und das verfluchte Bim-Bam- Bimmel
    Umnebelnd heiteren Abendhimmel
    mischt sich in jegliches Begebnis
    vom ersten Bad bis zum Begräbnis,
    als wäre zwischen Bim und Baum
    das Leben ein verschollner Traum."
    Die Glocke als Lebensbegleiter, hat nicht nur Dichter, Maler und Musiker inspiriert. Für die Glockengießerei "Petit & -Edelbrock" im westfälischen Gescher sind die Glocken seit über 300 Jahren Lebensgrundlage. In der 12. Generation stellt die Gießerei Kirchenglocken nach dem traditionellen Lehmverfahren her. Nur noch vier große Glockengießereien gibt es in Deutschland. Die haben alle Hände voll zu tun und sind auch für die Instandhaltung von Glocken und Glockenstühlen zuständig. Angefangen mit kühlen mathematischen Berechnungen bis zur schweißtreibenden Arbeit zwischen Feuer und Metall ist es ein langer Prozess, bis die Glocke fertig und der richtige Ton getroffen ist.
    "Der Glockengießer überträgt die von ihm gezeichnete Rippe, die er nach einem mathematischen Modell entwickelt auf ein Buchenholzbrett. Auf diesem Buchenholzbrett zeichnet er hier nicht mehr sichtbare Linien und Kreise: Die Linien geben die Formen hier vor und die Kreise geben die Rundungen vor. Dann wird hier eine Linie ausgeschnitten und diese Linie bedeutet, dass ich die Innenseite der Glocke abbilde. Dieses Brett kommt dann auf einen Stahlträger, also ein Rohr, und wird dann in eine Glockenform gehängt."
    Die Gescheraner Glockengießerei hat Nachgüsse von Glocken für die Ausstellung geliefert und gibt anhand von Modellen und auf Fotos einen Einblick in den Herstellungsprozess. Der hat sich in den letzten 800 Jahren kaum verändert. Und wer sich an Schillers "Lied von der Glocke" erinnert, erkennt sofort, dass der Dichter ein Kenner der Materie war.
    "Der Kern besteht aus Steinen, der ungefähr die Innenform der Glocke darstellt. Wie Schiller 1799 in der Glocke: "Festgemauert in der Erde steht die Form aus Lehm gebrannt. Heute soll die Glocke werden, kommt Gesellen, seid zur Hand." Diese Form wird aus Lehm hier Schicht für Schicht aufgetragen und getrocknet und wieder aufgetragen und getrocknet. Dann habe ich den Kern fertig. Auf diesen Kern bauen wir jetzt die sog. falsche Glocke auf. Die heißt "falsche Glocke", weil sie genau dieselbe Form hat wie die richtige Glocke, die später nämlich gegossen wird. Warum? Wir müssen ja irgendwo einen Hohlraum schaffen, der es uns ermöglicht, die Glocke zu gießen. Das ist die falsche Glocke. Und auf diese falsche Glocke kommen die Buchstaben. In diesem Falle steht hier" Friede sei Gott in der Höhe". Und dieser Wachsbuchstabe wird auf die falsche Glocke aufgetragen."
    Glockenformer formt  in der Glocken- und Kunstguss-Manufaktur Petit & Gebr. Edelbrock im westfälischen Gescher (Nordrhein-Westfalen) eine Form für eine Glocke aus Ton.
    Glockenformer formt in der Glocken- und Kunstguss-Manufaktur Petit & Gebr. Edelbrock im westfälischen Gescher (Nordrhein-Westfalen) eine Form für eine Glocke aus Ton. (dpa/picture alliance/Bernd Thissen)
    Über diese falsche Glocke werden nun weitere Lehmschichten aufgetragen, der sog. Mantel. Wenn der getrocknet ist, wird er hochgehoben, die falsche Glocke zerschlagen und übrig bleibt der Hohlraum, in dem dann die echte Glocke gegossen wird. Die Glockenform, die jetzt nur noch aus dem Kern und dem Mantel besteht, kommt dann in eine Gießgrube und wird bis auf das Eingussloch oben in feuchte Muttererde eingegraben. Das ist nötig, damit die Glockenformen während des Gießens nicht abhauen. Dann werden Rinnen gelegt zu den einzelnen Formen, durch die dann das erhitzte Gussmetall fließen soll. Für den Klang der Glocke ist das Material von großer Bedeutung, betont Rainer Esser:
    "Wenn Sie zum Beispiel den Zinnanteil - Bronze besteht ja aus 78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn - wenn Sie den Zinnanteil verändern, dann verändert sich auch der Nachhall der Glocke. Und der Nachhall der Gescheraner Glocke ist das, was sie eigentlich so beliebt und so berühmt macht, weil er besonders lang ist. Wir haben gerade eben was von Gussstahlglocken gehört. Nach dem Krieg baute man die natürlich, weil das Material nicht da war, aber sie haben alle keinen richtigen Nachhall, die Glocken, sondern sie schlagen an, dann hört man sie noch ganz kurz, und dann ist es weg."
    Nicht nur das Material macht den Ton, auch die Glockenform wirkt sich auf den Klang aus:
    "Man ist angefangen mit bienenkorbförmigen Glocken, die Sie dahinten sehen können, auch ein Nachguss, aus dem 11.Jahrhundert, dann kommt die Zuckerhutentwicklung, die etwas spitzer ist. Und dann kommen wir im 14. Jahrhundert/Anfang des 15.Jahrhunderts zu den berühmten Glockenformen, die wir heute als die typische Glockenform ansehen, die sogenannte Gotische Rippe. Rippe ist der Querschnitt einer Glocke, den hat Herr Esser vorhin beschrieben. Und diese drei Schritte zeigen wir einmal durch eine bienenkorbförmige Glocke dort hinten, durch eine zuckerhutförmige, die älteste Westfalens steht wie gesagt in Gescher und dann bis hin zur Gotischen Rippe, die hinter Ihnen stehen oder in den Glockenstühlen zu sehen sind."
    Acht bis zwölf Wochen sind vergangen seit der Glockengießer das Glockenmodell, die Rippe, auf das Buchenholzbrett gezeichnet hat. Jetzt naht der große Tag des Glockengießens in der Gießgrube, eine ganz besondere Zeremonie:
    "Wir gießen immer an einem Freitag. Warum? Am Freitag um 15 Uhr wurde der Herr ans Kreuz geschlagen. Und die Glockengießer haben die Tradition seit Jahrhunderten, dass sie zu diesem Zeitpunkt eben gießen. Das heißt, wir fangen morgens um 5 Uhr an, schmeißen den Ofen an und um 15 Uhr mittags wird dann gegossen. Dann kommen die Gemeinden, wir beten, wir singen. Dann dauert der Glockenguss selber so ungefähr eine halbe Stunde, bis alle Glocken ich sage mal so ein11er Geläut in der Grube gegossen ist. Wenn das so weit ist, verabschieden sich die Gemeinden von uns, die kommen teilweise von weit her. Und dann gibt es den kalten Guss: Der kalte Guss ist eine ordentliche Pulle Bier und ein schönes Kotelett auf die Hand, mit den dreckigen Pfoten, denn dann haben wir so 14 Stunden an einem Stück gearbeitet."
    Nach mehreren Tagen sind die Glocken abgekühlt, werden aus der Grube gegraben, von Mantel und Kern befreit und angeschlagen. In Europa waren es zunächst Mönche, die in Klöstern Glocken herstellten. Ab dem 13. Jahrhundert zogen weltliche Glockengießer mit ihren Öfen dorthin, wo Glocken gefragt waren. Aber die Glockengeschichte ist schon wesentlich älter, vor rund 5.000 Jahren sollen die ersten Glocken entstanden sein, weiß Hendrik Sonntag vom Westfälischen Glockenmuseum in Gescher:
    "Überall da, wo sich Hochkulturen entwickelt haben, wo mit Metall gearbeitet wurde, findet man interessanterweise Glöckchen oder Glocken. In China schon eben sehr große Glocken, sonst eben kleinere Glöckchen bei den Ägyptern, im Nahen Osten, im Vorderen Orient, natürlich in Europa auch, bei den Römern, bei den Griechen oder bei den germanischen oder keltischen Völkern."
    Durch den Klang Kontakt aufnehmen zu Gott
    Die Glocken wurden zu vielen Zwecken eingesetzt: Sie verkündeten die Uhrzeit oder dass die Stadttore geschlossen wurden, sie erinnerten an den Arbeitsbeginn wie an die Nachtruhe, sie warnten vor Feuer oder Sturm und mahnten sogar zur Steuerabgabe. Am wichtigsten war und ist das Läuten aber, um die Gläubigen zum Gottesdienst zu versammeln. Glocken haben auch eine symbolische Funktion: Hoch über den Menschen schwebend, sollen sie eine Verbindung herstellen zwischen Himmel und Erde, soll mit dem Läuten die Gebete aus der Kirche hinausgetragen werden.
    "Das wird in der Literatur immer gerne mitgeteilt: Dass eben dieser Klang so etwas Besonderes, Außergewöhnliches ist, dass es für die Menschen dann eben nahelag, wenn man mit der Gottheit, mit Gott Kontakt aufnehmen will, dann nutzt man diese kleinen Glöckchen, damals kleinere Glöckchen, heute natürlich auch die großen, mächtigen Kirchenglocken, um diese Verbindung herzustellen im übertragenen Sinne. In der heutigen Zeit vielleicht für manchen Zeitgenossen nicht nachvollziehbar, aber für die Menschen der Antike, auch des Mittelalters und der Neuzeit im Christentum, haben Glocken eben diese immense Bedeutung."
    Zu bestaunen sind in der Dortmunder Ausstellung auch riesige Klöppel, die in der Glocke hängend längst nicht mehr vom Glöckner in Bewegung gesetzt werden, sondern von einer computergesteuerten Läutemaschine.
    "Wir haben in der Ausstellung drei Klöppel liegen, die die Glockengießerei zur Verfügung gestellt hat. Wichtig ist zu wissen, dass Klöppel jetzt nicht irgendwie in die Glocke hineingehängt werden können. Sie müssen also in einer bestimmten Halterung in der Glockenhaube oben angebracht werden. Der Klöppel ist auch durch ein Lederband von der Glocke getrennt, sodass also nicht der Eisenklöppel mit der Bronze zusammenkommt. Der Klöppel hat aber die Eigenschaft oder die Aufgabe, durch die schwingende Glocke an der Glockenwandung anzuschlagen und in diesem Punkt darf dann der Eisenklöppel einmal die Bronzeglocke anschlagen, darf, wie man so schön in der Gießerei sagt, einmal die Glocke küssen, muss aber sofort wieder von der Wandung zurückgehen und bei der Läuteglocke an der anderen Wand wieder anschlagen, um dann den Glockenklang zu erzeugen."
    Dann hängt sie längst, die tonnenschwere Glocke, die vorher mit einem Kran in Millimeterarbeit in den Glockenturm verfrachtet und im hölzernen Glockenstuhl ihren Platz für die nächsten Jahrhunderte gefunden hat. Wenn sie sich dann in Bewegung setzt kommt Theodor Fontane ins Schwärmen:
    "Der Glocke feierliche Klänge
    Ertönen mächtig durch die Luft,
    Zur Kirche wallt die gläubige Menge,
    Wie wenn sie Gottes Stimme ruft.
    Der Trum erbebt, die Töne brausen
    Wie Sturmwind in der Felsenkluft;
    Jetzt möchte ich auf der Glocke sausen
    In wildem Fluge durch die Luft."
    Die Ausstellung in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Dortmund ist noch bis zum 15. März zu sehen.