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Glosse
Digitales Logbuch: Verratsdaten

Wer sich an Bahnhöfen aufhält, stellt schnell fest: Warteschlangen gibt es nicht mehr. Heute zieht man Nummern und wartet im schicken Loungebereich auf seinen Einsatz - stets kritisch beäugt von Personal und allgegenwärtigen Überwachungskameras.

Von Wolfgang Noelke |
    Neugierig war ich, warum die Bahn mit so teurer Technik etwas vernichtet, was vorher gratis prima funktionierte: die Warteschlange. Eins der letzten, natürlichen sozialen Netzwerke ist kaputt. In der Schlange waren vorher völlig fremde Menschen - schon Jahrzehnte vor Twitter und Facebook - in der Lage, vernetzt zu shitstormen: Der heutige Shitstorm hieß früher "Meckern".
    Oft wurde über die stets mit unbesetzten Schaltern und defekten Fahrkartenautomaten korrelierende Länge der Schlange gemeckert. Vorbei ist's damit. "Cooling Down" nennen Psychologen diese Kunden-Umerziehung: Statt zu meckern, haben sich Ex-Schlangen-Teilnehmer nun mit gesenktem Blick dem Automat zu beugen, ihre Nummer zu ziehen und brav auf Gong und Nummernanzeige zu warten. Selbst wenn nichts los ist, wie gestern Vormittag im Bahnhof Zoo, verhindert eine uniformierte Gouvernante, dass Bahn-Kunden nicht einfach ohne Wartekartenprozedur zum nächsten freien Schalter latschten.
    Wer sich wundert, entdeckt die nur zwei Meter nahe Kamera, die diesen Wartemarken-Automat überbewacht, so als ob Gratis-Wartemarken ein begehrtes Diebesgut wären. Gestern, um 11:14 Uhr sieht sie das Gesicht eines grinsenden Menschen, der keine Wartemarke zieht, stattdessen beim Lachen die Kamera entdeckt, mit dem Finger darauf zeigt, dann auf den Automaten und wieder direkt auf die Kamera. Für normale Bahnkunden sind dies atypische Bewegungen.
    Ein eventuell verstecktes Mikrofon hätte hören können, dass der lachende Typ seiner Begleiterin von Algorithmen erzählt, die am Gesichtsausdruck von Supermarktkunden deren Einkaufsverhalten vorhersagen und die teure, sinnlos erscheinende Wartemarkenautomaten-Überwachungskamera wohl genau dasselbe macht: Eine Großaufnahme jedes Kundengesichts dem Einkauf, also dem Reiseziel zuzuordnen und - es würde mich nicht wundern, wenn - wegen der Sicherheit – auch der gesamte Reiseverlauf im Vorratsdatenspeicher landet.
    Dass dieselbe Supermarktkunden-Verfolgungstechnik der Polizei atypisches Verhalten verrät und vielleicht schon Alarm schlägt, wenn jemand mit dem Finger auf Kameras zeigt oder am falschen Ort grinst, habe ich vorsichtshalber geflüstert. In einem Bahnhof ist Flüstern äußerst atypisch und verdächtig. Zu spät! Ich sollte langsam damit beginnen, bis Montag meine Festplatten zu zerstören.