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Glosse zum Streik
Keine Post mehr da

Mit einem unbefristeten Ausstand will die Gewerkschaft die Post zum Einlenken zwingen. Auch wenn keine Festivals betroffen sind, Verdi nicht den Komponisten meint, und der Schauplatz auch nicht Frankreich ist, wo das Streiken ja irgendwie zur Kultur gehört - ist der Post-Streik ein Thema für "Kultur heute" und Burkhard Müller-Ullrich.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 10.06.2015
    Briefe liegen in einer Postbox.
    Die Gewerkschaft Verdi hat die Post-Mitarbeiter zu unbefristeten Streiks aufgerufen. (picture alliance / dpa/ Malte Christians)
    Es gibt die Post, die man bekommt, die Post, die man betritt, sowie die Post, die gerade streikt. Schon die Vieldeutigkeit des Wortes Post zeigt, was für ein kompliziertes Thema wir hier vor uns haben. Handelt es sich um ein paar Schriftstücke, um ein Gebäude oder um ein System? Vor allem handelt es sich um eine soziale Skulptur, eine transzendentale Wesenheit, so unfassbar und mächtig wie ihre Schwester, die Bahn. Beide sind für Transport zuständig - im einen Fall von Menschen, im anderen von Sachen.
    Doch während die Bahn immer noch auf Eisenschienen fährt, hat die Post den Börsengang schon hinter sich und ist jetzt ein total modernes Unternehmen. Man spricht deshalb auch von der Postmoderne. Die ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass Ämter zu Filialen wurden und jetzt innen aussehen wie Jugendzimmer von Ikea. Man kann da Zeitschriften abonnieren, seine Identität feststellen lassen und Spielzeug kaufen, denn im Marketingjargon bedeutet Post "Point of Sale" - das T am Ende steht für Turbokapitalismus.
    Unter turbokapitalistischen Verhältnissen ist das Postalische an der Post weitgehend verschwunden; man kann schon nicht mal mehr am Stempel erkennen, durch welches Postamt ein Brief gegangen ist, weil da nur noch "Verteilzentrum" steht. Unter turbokapitalistischen Verhältnissen ist die Post auch nur noch ein Versanddienstleister unter vielen; die Kuriere konkurrieren bis zu dem Punkt, dass jetzt täglich bis zu vier verschiedene Austräger von vier verschiedenen Firmen Zugang zu den Hausbriefkästen erklingeln.
    Alles hat sich vermehrt: Es werden zwar angeblich keine Briefe mehr geschrieben, aber die Versandzahlen explodieren. Logistik ist das ganz große Geschäft unserer Zeit, weil jede Unterhose erst mal um den Globus reisen muss, bevor wir sie im Versandhandel nebenan bestellen können. Geliefert wird dann schlimmstenfalls in eine Packstation: Das ist ein Blechkasten, mit dem man jederzeit, auch abends und an Wochenenden, Zwiesprache halten kann, warum er das angekündigte Paket nicht hergibt.
    Bloß der klassische Brief, dieses Relikt aus dem Kohlenstoffzeitalter, bereitet der Post ernste Probleme. Denn der ganze Aufwand des Einsammelns und Sortierens, des Stempelns und Transportierens, des Ein- und Um- und Ausladens sowie Herum- und bis zu uns nach Hause Tragens wird durch die Centbeträge, die wir dafür bezahlen, in keinem Fall gedeckt. Deshalb mag die Post unsere Briefe eigentlich nicht. So eine Kampagne wie "Schreib mal wieder" vor Jahrzehnten würde die Post heute nicht mehr machen.
    Die neue Kampagne müsste heißen: Lerne Warten! Mal sind die Postfilialen wegen Betriebsversammlungen geschlossen, mal stehen die Kunden bis auf die Straße an, und mal hält ein Arbeitskampf den Betrieb auf. Die Post hat viele Instrumente, um das Volk zu foltern. Jetzt zeigt sie uns, wie Stillstand geht. Nicht umsonst ist Post ein Anagramm von Stop.