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Glotz: "Entscheidungsspielraum der Mitglieder bei Bundespräsidentenwahl gering"

Jürgen Zurheide: Geht alle Gewalt vom Volke aus? Die Wahl des Bundespräsidenten steht an. Morgen tritt die Bundesversammlung zusammen. Heute wird geprobt in den jeweiligen einzelnen Fraktionen, damit auch gar nichts schief gehen kann und morgen stehen sie dann zur Wahl, die beiden Überraschungskandidaten Horst Köhler für die CDU und Gesine Schwan für die SPD. Sie sind Überraschungskandidaten gewesen und mussten ihre Bekanntheit in Deutschland erst einmal steigern, bevor es dann morgen zur Wahl gehen kann. Darüber wollen wir reden mit Peter Glotz, dem Medienprofessor aus St. Gallen. Herr Glotz, 1205 Wahlmänner und Wahlfrauen haben morgen eine Entscheidung zu treffen, aber wie groß ist denn der Entscheidungsspielraum? Horst Köhler wurde im Wohnzimmer von Guido Westerwelle "ausgeschnappst", so muss man das sagen, und bei Gesine Schwan gab es auch keine große Debatte. Wie groß ist der Spielraum?

    Peter Glotz: Er ist sehr gering, weil Sie erstens bedenken müssen - ich war Mitglied in fünf solchen Bundesversammlungen -, dass in dieser Bundesversammlung die meisten Mitglieder Berufspolitiker sind, Bundestagsabgeordnete oder Landtagsabgeordnete. Abweichen tut nur eine winzige Minderheit, die nun gerade den jeweiligen Vorsitzenden oder die Vorsitzende hasst. Das sind nicht so viele. Es gibt natürlich auch noch ein paar Lebemänner, die da benannt werden, Fußballstars, Philosophen oder wer immer, Unterstützer, denen man die Ehre erweist, dadurch, dass man sie zu Mitgliedern dieser Versammlung macht oder mit denen man sich umgekehrt schmückt. Aber die würden ja vorher sagen, wenn sie seriöse Leute sind: "Hören Sie mal, ich will Herrn Köhler nicht wählen." Und dann nimmt man halt jemand anderen. Ich glaube nicht, dass es da einen großen Entscheidungsspielraum oder überhaupt einen großen Entscheidungszwang in den einzelnen Mitgliedern gibt.

    Zurheide: Und wenn das so ist, dann wird Horst Köhler wohl gewählt werden. Edmund Stoiber hat ja schon gesagt: "Das ist der Beginn einer politischen Zeitenwende in Deutschland." Würden Sie das auch so interpretieren, wenn es denn so kommt?

    Glotz: Na ja, das ist ein Zitat von Gustav Heinemann, der damals die fragwürdige Formulierung gebraucht hat. Meine Wahl ist ein Stück Machtwechsel. Man kann das so interpretieren, weil natürlich gelegentlich die Wahl des Bundespräsidenten eine spätere Koalition vorgeprägt hat, die dann an die Macht kam. Immer muss das nicht so sein.

    Zurheide: Wenn Sie jetzt mal weiterfragen, ist denn die Wahl über die Wahlmänner aus Ihrer Sicht eigentlich vernünftig und noch zeitgemäß? Oder sollte man nicht auf Direktwahlelemente gehen? Dann würde es auch solche Wohnzimmerkandidaturen nicht mehr geben?

    Glotz: Genau. Ich sage das seit 20 Jahren. Es hört zwar keiner zu, aber richtig ist es trotzdem: Es gibt überhaupt keinen Grund, das dem Geklüngel von fünf, sechs Leuten zu überlassen. Irgendwann hat Herbert Wehner entschieden: "Ich will eine große Koalition. Dafür ist Lübke der Beste, also muss der auch eine zweite Periode im Amt bleiben", obwohl er schon krank war. Dann war die zweite Periode eine Katastrophe auch für die Institutionen, weil der Mann eben krank war und vieles dann nicht mehr auf die Reihe bekam, während er in der ersten Periode ganz akzeptabel war. Jetzt haben wir den wohl schlimmsten Fall, Frau Merkel wollte oder musste vor allem ihre Kanzlerkandidatur sichern. Ich bin für die Volkswahl, so wie bei den Österreichern, wo sich das jetzt durchgesetzt hat. Da muss man die Kompetenzen des Präsidenten maßvoll erhöhen, wenn er vom Volk gewählt wird. Aber man muss keine französischen oder amerikanischen Präsidenten aus ihnen machen. Es genügt durchaus ein österreichischer.

    Zurheide: Kommen wir noch mal auf die Bundesversammlung zurück, wenn dann morgen auf der einen Seite Paul Spiegel für die CDU da sitzt und dann sitzt Herr Filbinger auch für die CDU da. Das hält nicht nur Paul Spiegel für unglücklich. Warum ist das eigentlich so? Warum zieht die CDU ihn nicht zurück?

    Glotz: Na ja, das müssen Sie die CDU fragen, warum sie ihn nicht zurückzieht. Sie müssen sie auch fragen, warum sie ihn überhaupt benannt haben. Im übrigen ist das aber für das Ergebnis völlig gleichgültig. Ich würde irgendwann diesen 90-jährigen Mann mal in Ruhe lassen. Ich hätte ihn allerdings auch insofern in Ruhe gelassen, als ich ihn gar nicht für diese Versammlung benannt hätte.

    Zurheide: Es wird ja vermutlich wieder keine Frau werden. Wie lange wird Deutschland warten müssen, bis es von einer Frau auch in obersten Ämtern repräsentiert werden kann?

    Glotz: Ja, das ist anzunehmen. Leider ist es ja so, dass Frauen immer nur dann nominiert werden, wenn sie keine Chance haben. Das galt für Annemarie Renger, das galt für Dagmar Schipanski bei der CDU und gilt wahrscheinlich jetzt auch wieder für Gesine Schwan. In der Tat sollten die Parteien irgendwann mal, wenn sie wissen, sie gewinnen, einmal eine Kandidatin präsentieren, denn Parteien wissen das ja. Sie können ja einigermaßen die Mehrheiten zählen. Und sie sind ja in der Regel so groß, dass man auch davon ausgehen kann, dass der jeweilige Kandidat gewählt wird. Leider sind das bisher immer nur Lippenbekenntnisse gewesen.