
Musik 1: Cherubini, Ifigenia in Aulide, 2. Akt
Am Ende des 2. Aktes in Luigi Cherubinis "Iphigenie in Aulis" sind vier Seelen in Aufruhr. Agamemnon soll seine Tochter Iphigenie opfern, damit die Göttin Diana die Windstille beendet, und die Schiffe gen Troja auslaufen können. Iphigenie will sich ihrem Schicksal fügen, aber ihr Verlobter Achill ist nicht einverstanden, Odysseus drängt, den Willen der Göttin zu erfüllen. 1788 kam Cherubinis letzte italienische Oper "Ifigenia in Aulide" als riesiger Erfolg in Turin zur Uraufführung. Es sei nicht sicher, ob Cherubini zum Beispiel das berühmte Quartett aus Mozarts "Idomeneo" kannte, sagt die Weimarer Cherubini-Forscherin Helen Geyer. Doch ähnlich wie Mozart charakterisiert Cherubini zum Beispiel mit phantasievoller Bläser-Instrumentierung den Seelenzustand seiner Figuren:
"Dieser starke Bläsersatz nimmt vorweg, was im 19. Jahrhundert gang und gebe ist, nämlich: die innere Stimme des Menschen wiederzugeben oder auch ein Ausrufezeichen zu setzen, bzw. man hat natürlich schon den Eindruck, dass er eine gewisse Replik hat. Wir haben natürlich das Gefühl, da steht Gluck Pate, manchmal steht auch Mozart Pate, aber möglicherweise steht Rameau für alle miteinander Pate."
Musik 2: Cherubini, Ifigenia
"Wir entdecken Gluck ja allmählich als jemand der nicht nur den Orpheus geschrieben hat, somit auch seine Zeitgenossen. Das ist die Aufgabe eines Festivals, diese Dinge möglich zu machen."
Sagt Christian Baier, der künstlerische Leiter der Gluck-Opernfestspiele. Zu Glucks musik-historischem Umfeld gehört natürlich Cherubinis "Iphigenie in Aulis". Ein großes Lob für die Festspiele und das Mainfranken Theater Würzburg, dieses spannende Werk wieder hörbar gemacht zu haben, mit einem exzellenten Sänger-Ensemble, darunter etwa die italienische Sopranistin Roberta Invernizzi als Iphigenie oder der junge Countertenor Ray Chenez als Achill. Gluck und Cherubini haben bei ihren Iphigenie-Vertonungen unterschiedliche Ansätze. Gluck bezieht sich auf die französische "tragédie lyrique", Cherubini steht mit seiner "Iphigenie" zwar noch in der Tradition der italienischen "opera seria", aber seine Mittel weisen in die Zukunft, auch nach Frankreich.
Musik 3: Cherubini, Ifigenia in Aulide, 2. Akt
"Iphigenie ist eine Ikone des 18. Jahrhunderts. Sie taucht als Bühnenfigur und sie taucht als Diskussionsfigur in den ganzen philosophischen und auch historischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts auf."
"Zeit-Kultur/Streit-Kultur" lautet das Motto der diesjährigen Gluck Opernfestspiele. Dafür, für eigenverantwortliches Handeln, so Christian Baier, stehe Iphigenie exemplarisch bis heute. Sie wurde im letzten Moment vom Opferaltar in Aulis gerettet und von Diana nach Tauris, der heutigen Krim entführt. Dort muss sie jeden Fremden töten, Blutschuld auf sich laden, und den grausamen Fluch, der auf ihre Familie, der Artriden Sippe, liegt, vollziehen. Doch sie weigert sich. "Iphigenie auf Tauris" zeigten die Gluck Festspiele in den Fassungen von Gluck und von seinem Zeitgenossen Niccolò Piccini.
Musik 4: Niccolò Piccini, Iphigénie en Tauride, 1. Akt
Gluck und Piccini wurden von ihren Anhängern im legendären Pariser Opernstreit, ob der französischen oder italienischen Oper der Vorzug zu geben sei, zu Protagonisten stilisiert. Dabei schätzen sie sich als Kollegen.
"Natürlich hat jeder Komponist seine eigene Tonsprache, seinen eigenen Stil, aber das Wesentliche, aus meiner Sicht, das Interessante, sowohl bei Gluck, Piccini, ist doch der Versuch, im Grunde genommen das, was wir als Barockoper kennen, in einen anderen Modus zu überführen."
Wolfgang Katschner leitete die konzertante Aufführung von Piccinis "Iphigénie en Tauride", spritzig, inspiriert, sensibel. Piccini wie auch Gluck wählen eine durchkomponierte Form. Die starre Abfolge Rezitative-Arien ist aufgehoben. Die Arien sind eher liedhaft als virtuos, die Rezitative nicht mehr vom Cembalo sondern vom Orchester begleitet. Die Komponisten suchen neue Formen. Piccinis Arien sind fein ausgestaltete Miniaturdramen, die den inneren Aufruhr einer Seele musikalisch begreifbar machen.
Musik 5: Niccolò Piccini, Iphigénie en Tauride, 3. Akt
Auch Piccinis "Iphigénie en Tauride" war eine lohnende Erstaufführung nach mehr als 200 Jahren. Spannend war dann einige Tage später der Vergleich mit Glucks "Iphigenie". Hier leitete der Dirigent Christoph Spering eine Bearbeitung des Werkes von Richard Strauss von 1890:
"Das waren damals wirklich praktische Bearbeitungen, die dazu führen sollten, dass das Werk weiterverbreitet wird, also: Es ging darum, dass das Werk zur Aufführung kam, und Richard Strauss hat das Werk sehr Theater praktisch eingerichtet, und trotzdem zu dem dramatisiert, dramatischer gemacht. reißerischer als es schon bei Gluck war durch seine Instrumentierung."
Musik 6: Christoph Willibald Gluck, Iphigenie auf Tauris
Christoph Spering, ein ausgewiesener Kenner der historischen Aufführungspraxis, balancierte mit feinem Gespür den lyrischen Gestus von Glucks Musik mit Richard Strauss’ opulenterer Instrumentierung aus. Und die britische Sopranistin Anna Dennis in der Titelpartie war mit ihrem wunderbar geführten Sopran eine Idealbesetzung. Mit Strauss’ Iphigenie-Fassung, die sich bis auf den Schluss relativ eng an das Original hält, boten die Gluck Opernfestspiele nicht nur die Auseinandersetzung mit der Bühnenfigur Iphigenie, sondern zusätzlich einen interessanten Blick in die Gluck-Rezeption Ende des 19. Jahrhunderts.