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Gnadenlos kämpfende Glücksritter

Mit "Nackig in Garden Hills" hat sich Harry Crews 1969 als Autor etabliert. Der Roman gilt als Meisterwerk der Südstaaten-Literatur, deren Merkmale hier deutlich sind: ein oft ins Groteske verzerrter Realismus, kräftiger Humor und eine Menge Freaks, Außenseiter und Verlierer.

Von Franz Dobler | 01.03.2010
    Als 2006 das 23. Buch des Amerikaners Harry Crews erschien, wurde in der "New York Times" mit hochgezogenen Brauen ausführlich darauf hingewiesen, dass sich der 71-Jährige "mit seiner fortlaufenden Saga aus dem harten Süden" zwar nicht den "ganz großen Ruhm" erschrieben hätte, aber den Status "Kultautor". Ein Ausdruck, der uns kalt lässt. Doch man findet schnell heraus, dass die Kultpunkte des Harry Crews für zehn normale Kultautoren reichen würden.

    Ein paar Beispiele, weil der Autor bei uns kaum bekannt ist: Sean Penn wollte seinen Roman "The Knockout Artist" verfilmen, bekam jedoch das Geld nicht zusammen; in Penns Regie-Debüt "Indian Runner" hatte sein Freund Crews eine kleine Rolle; in der Verfilmung seines ebenfalls auf deutsch erschienenen Romans "Der Fluch" sind in den Hauptrollen Harvey Keitel, Johnny Depp und Vanessa Paradis. Schon 1978 hatte Georg Stefan Troller einen Dokumentarfilm über Harry Crews gedreht: den Ex-Marine, Ex-Boxer, Playboyautor und Universitätsprofessor, der so aussah, als hätte er sein Leben schon immer mit harter Handarbeit verdient.

    Im Musikbereich sind es die schreibenden Sänger Nick Cave, Henry Rollins und Lydia Lunch, die seit Jahren kräftig für Crews trommeln – und ich schätze, es gibt zwei Dutzend deutsche Autoren unter 55, die für so eine Werbung ihren Verleger samt Familie auslöschen würden.

    Als Lydia Lunch eines Tages eine Band mit Kim Gordon von Sonic Youth gründete, nannten sie die Band ganz einfach "Harry Crews". Und ihr einziges Album "Naked in Garden Hills" - so wie den Roman, um den es jetzt geht.

    Mit "Nackig in Garden Hills" hatte sich Crews 1969 als Autor etabliert. Der Roman gilt als Meisterwerk der Südstaaten-Literatur, deren Merkmale hier deutlich sind: das mystische Raunen mündlicher Überlieferung, unheimliche Religiösität, ein oft ins Groteske verzerrter Realismus, kräftiger Humor und, Crews-typisch, eine Menge Freaks, Außenseiter, Verlierer und gnadenlos kämpfende Glücksritter.

    Es ist die Geschichte eines Kaffs, das nach der Schließung der weltgrößten Phosphatmine verkümmert ist und nun von der modernen Zeit komplett verdreht wird. Mit einem Satz: Die Arbeit geht, der Tourismus kommt. Das Kommando im Dorf übernimmt die schöne Dolly, die mit tollen Ideen aus New York zurückkehrt: Aus der verrotteten Werkshalle wird ein Striptease-Tempel, der den herumlungernde Teenager-Girls endlich Arbeit gibt. Hoffnungslose Männer dürfen wieder zupacken: Wes Westrum gräbt wie früher den ganzen Tag in einer Grube, aber der einzige Sinn besteht nun darin, den Touristen was zu bieten. Auch das ist die neue Zeit: Seine Tochter muss ihm den Job erklären.

    Mit Dolly war es besser. In ihrer Grube musste er nicht so hart arbeiten und er wurde auch nicht beaufsichtigt. Er kleisterte sich morgens zu, plantschte zwölf Stunden am Boden der Grube herum und ging dann nach Hause. Es war besser, als einen Eiswagen zu fahren. Dann kam er eines abends von seinem Loch nach Hause und seine Tochter Wydalia erzählte ihm, worum es eigentlich ging.
    "Du bist im Showgeschäft, Pa!"
    "Bin ich?" Dann runzelte er die Stirn. "Hast du das aus dem Buch?"
    "Showgeschäft, Pa! Showgeschäft! Sie hat dich in das Teleskop genommen..." Aber Wydalia konnte sehen, dass er nicht verstand. "Du bist in dem Loch, damit die Touristen was zum Gucken haben. Sie hat dich in das Verzeichnis aufgenommen. Du bist Nummer 15 im Verzeichnis".
    "Was soll das?"
    "Um die Einnahmen zu verdoppeln". Wydalia hatte alle Eigenarten von Dollys Ausdrucksweise angenommen. "Du bist Nummer 15 im Verzeichnis, aber du wirst nicht genannt. Verstehst du? Sie sagt ihnen, wo sie hinsehen sollen, ohne ihnen zu verraten, wer du bist. Das wird sie schwindlig machen. Die Einnahmen könnten sich verdreifachen".

    Zum Heulen aktuell ist das also - und doch kein trauriger Roman: denn Crews holt aus der Bewegung vom abgewrackten zum aufblühenden Landstrich seine bitterböse Tragikomödie. Durch seinen amerikanischen Traum geistern ganz normale Freaks, die sich alle in ihrer persönlichen Tretmühle abschuften. Der Assistent des Dorfherrschers Fat Man ist ein manischer Möchtegern-Pferdejockey, der sich zudem als traurige Zirkusnummer abquält. Seine Freundin eine drittklassige Hillbilly-Burlesquetänzerin, deren Fähigkeit, mit der Vagina eine Zigarette zu rauchen, grölend gefeiert wird. Sexbombe Dolly entwickelt sich zur knallharten Ausbeuterin und ist verzweifelt stolz auf ihr intaktes Jungfernhäutchen. Und grausam entmachtet sie den bisherigen Boss, den 300 Kilo schweren Fat Man. Der bei aller Macht auch gutmütig ist, aber in jeder Hinsicht zu unbeweglich.

    Die Phosphatfabrik wurde geschlossen und er bekam den letzten seiner 50tausend-Dollar-Schecks. Zu lernen, dass sogar Jack O´Boylan aufhörte, war ein Schock. Mehr als ein Schock war es, zu erkennen, dass eine Zeit kommen könnte, in der das Problem des zuviel Essens abgelöst werden könnte durch das Problem, überhaupt genug zu Essen zu bekommen.
    Er hatte sich immer als etwas besonderes gesehen, als außerhalb der Lebensumstände derer, die am Boden des Lochs lebten. Schließlich lebte er auf dem Hügel, und er hatte einen Vertrag. Und dann verlor der Vertrag plötzlich seinen Wert und alle zogen sie davon und drohten, ihn allein auf dem ruinierten Land zurückzulassen. Das war eine schreckliche Vorstellung.
    Er war praktisch zu dick, um selber klarzukommen. Falls alle Leute aus Garden Hills wegziehen würden, dann könnte auch Jester wegziehen. Und er könnte allein nicht überleben. Wegziehen war auch eine Möglichkeit für ihn, natürlich. Aber das wäre noch schrecklicher. Hier in Garden Hills war er ein Held, außerhalb von Garden Hills war er ein Freak. Hier verehrte man ihn – woanders, da lachten die Kinder über ihn, Erwachsene wollten ihn steinigen.

    Den langsamen Wechsel von Zeit und Macht, und wie der Dorfkönig Fat Man von allen verraten wird und zuletzt den übelsten, alptraumhaften Job von allen antreten muss – das erzählt Harry Crews mit dem Gespür für die biblischen oder auch Shakespeare´schen Ausmaße seiner Story. Und das heißt: der Mann ist ein großer Action-Autor. Ganz im Sinn eines Graham Greene, von dem er sagt, dass er alles von ihm gelernt hat. Der das Zupackende eines Norman Mailer ebenso hat wie die beklemmende Tiefe eines Cormac McCarthy. Und wohlgemerkt: Crews ist bei diesen Vergleichen keineswegs der Schwächere. Dass seine beiden deutschen Ausgaben bei einem Kleinverlag erschienen sind, und dass man ihn bei uns kaum kennt, ist kein Widerspruch. Sondern ein gutes Zeichen: es gibt was zu entdecken.

    Harry Crews: "Nackig in Garden Hills". Roman.
    Aus dem Amerikanischen von Stefan Ehlert, mit Illustrationen von Tobias Bornweilder. 224 S., Verlag mox & maritz, Bremen 2009