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Goethe

Für Viele war 1999 das so genannte "Goethe-Jahr", in dem es des größten deutschen Dichters zu gedenken galt: als ob allein die Zahlenmagie des runden, ein Vieteljahrtausend umfassenden Geburtstages seine vergangene Größe wieder heraufbeschwören könnte. Eine ganze Kleinstadt in Thüringen stand ein ganzes Jahr lang im Fieber der Festivitäten, obwohl gerade sie mit der zu feiernden Geburt des Genies am allerwenigsten zu tun hat. Aber nur die Unwissenden, die Komparsen der Kultur feierten das Gedenkjahr des "Dichters und Denkers"; den Kennern war das Datum eher Anlaß zur Begrüßung der Zukunft des Werkes, Anlaß zu einem Toast ganz im Sinne Goethes als "Willkomm und Abschied": Willkomm für gleich zwei zugleich zum Abschluß kommende kritische Ausgaben des Gesamtwerkes (nämlich im Hanser und im Suhrkamp Verlag) und damit Abschied von gut zwei Jahrhunderten Mythenbildung durch zurechtgestutzte, ja kastrierte Werkauswahl. Zu feiern gab es also einen Anfang, den Beginn der Ära einer Beschäftigung mit dem ganzen Goethe, 250 Jahre nach seiner Geburt. Und weil man so erst am Anfang steht, war es verständlich, daß in diesem Jubiläumsjahr kaum eine auf Originalität Anspruch erhebende Publikation zu erwarten war.

Michael Wetzel | 13.03.2000
    Aber es gab Zuspruch, nämlich nachdrückliche Bestätigung der Notwendigkeit einer Neulektüre des Weimarer Meisters. Hans Mayer, Grandseigneur der Goetheforschung, der schon als Person für ein halbes Jahrhundert deutsch-deutscher Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg steht, hat sich mit einem kurz "Goethe" genannten Buch pünktlich zum Jubiläum zu Wort gemeldet. Daß das Buch gleichwohl eher gegen Ende des Festjahres auf den Markt kam, zeigt die Gelassenheit des großen Goethekenners, der um die Zeitlosigkeit seines Themas weiß. Über Goethe wird auch weiter nachgedacht werden, ja der wahre Flug des philologischen Geistes beginnt erst, wenn sich die Kehlen der Feuilletonisten heiser gebrüllt haben. In diesem Sinne sind die im vorliegenden Buch zusammengestellten Aufsätze gegen einen Zeitgeist verfaßt, der - so Mayer - "nur Gewalt und Geld respektieren versteht" und nur Sinn hat für eine "steife denkmalsähnliche Haltung", denn: "Allzu leicht verführt eine Gedenkfeier, verführt der Schwung einer Festrede den Betrachter dazu, das Bild vergangener Leistungen und Größe zu idealisieren und entsprechend den Aufgaben einer völlig gewandelten Zeit zu verfälschen."

    So also Mayer in seiner Rede vor jungen Menschen in Weimar 1949 zum 200. Geburtstag von Goethe. Es ist das älteste Zeugnis seiner lebenslangen Beschäftigung mit diesem Autor, die mit den im Januar 1999 geschriebenen persönlichen Erinnerungen an die Begegnung mit dessen Werk vorläufig endet. Was all diese Gedanken zum Leben und Werk des Dichters jener für Deutschland so wichtigen und sogar nach ihm benannten Epoche des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert aber zusammenhält, ist das Interesse an Reaktivierung: d. h. an einer Abkehr von der - wie Mayer es ausdrückt - "frech aneignenden Festlichkeit des deutschen Spießbürgers" mit seinen Gipsbüsten des s. g. "Dichterfürsten", sowie an einer Beleuchtung auch derjenigen Aspekte des "inkommensurablen Genies" Goethes, die von "Mißerfolgen, Ungleichzeitigkeiten" zeugen. Damit wird bewußt eine Abkehr von der Tradition vollzogen, die Manfred Fuhrmann kürzlich als "europäischen Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters" rekonstruiert hat. Hans Mayer, dem ehemaligen marxistischen Literaturprofessor in Leipzig, der 1963 die DDR aus ideologischen Gründen verließ, gelingt es auf einzigartige Weise, ein kritisches Bild zu zeichnen, ohne die geistige Größe Goethes damit schmälern zu wollen oder aus seiner Bewunderung für diesen Künstier von beispielloser Kraft ein Hehl zu machen.

    Im Gegenteil: Vor dem Hintergrund seiner Schwächen wird der Mensch Goethe noch besser gewürdigt und vor allem vor den Verklärungen oder dem Mißbrauch der deutschen Bildungsphilister gerettet, deren kulturfeindliche Tendenzen Mayer wie Adorno - oder neuerdings Georg Bollenbeck in seiner Geschichte der Avantgarde und Reaktion - in der Barbarei von Auschwitz und Buchenwald enden sieht. Es geht nicht zuletzt um die Grenzen Goethes, seine Blindhei gegenüber der geschichtlichen und gesellschaftlichen Gegenwart seiner Zeit, die andererseits Bedingungen für seine künstlerische Leistung waren. Mayer, der mit großem Kenntnisreichtum und intellektueller Souveränität die enzyklopädische Weite von Goethes Denkweise darstellt, die gleichzeitige (heute würde man sagen: interdisziplinäre) Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen, ästhetischen, philosophischen und poetischen Fragestellungen neben der Amtstätigkeit als Minister am Weimarer Hofe, erinnert aber auch an sein Bewußtsein der eigenen Grenzen - z. B. in der schon mit Schiller begonnen Diskussion über den "Dilletantismus".

    Nicht zuletzt kommen auch die biographischen Nöte zur Sprache: die lange Schaffenskrise in der provinziellen und intriganten Athmosphäre des Weimarer Duodezfürstentums, aus dessen desillusionierender Kleingeistigkeit sich Goethe durch die ideale Künstlerfigur des Torquato Tasso herauszuschreiben sucht; oder seine (nach dem "Werther") notorische Erfolgslosigkeit und Unzeitgemäßheit als Dichter, die er im Umgang mit so erfolgreichen Zeitgenossen wie Schiller zu kompensieren suchte. Überhaupt stand Goethe seiner Zeit fremd gegenüber, ja der Zeit überhaupt als Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit. Das in Italien proklamierte Programm des Sehens, das eine Schau des antiken Schönheitsideals sichern sollte, war auch eine Scheu vor der Gegenwart. Jedenfalls nahm Goethe von dem gleichzeitig sich vollziehenden Zerfall des feudalistischen "Ancien Régime" in Frankreich nichts wahr, ja blieb der Französischen Revolution verständnislos gegenüber und mied auch die Brutstätten der modernen Massenvolkskultur wie London oder Paris, die - mit den Worten Mayers "Großstädte des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit mächtigen und aufgeklärten Bourgeois (Bankiers, Handelsleuten, Steuerpächtern, gekaufter Magistratur), mit Stadtvierteln eines bewußten Plebejertums, mit den Abgründen einer Unterwelt, wo sich im Genuß der Austausch vollzieht zwischen Herren und Knechten".

    Goethes Bild der sozialen Realität seiner Zeit war die der Bauern und Tagelöhner Thüringens. Mayer hat sie auf eine schöne Metonymie gebracht: "die Strumpfwirker von Apolda", deren exemplarische Notlage Goethes Reformgeist wiederholt berührt hat. Sie werden gleichsam zum Schibboleth, zum wiederkehrenden Stichwort für Goethes soziale Wirklichkeitswahrnehmung. Leider kehren aber auch andere Formulierungen häufig wieder, da die ursprünglichen Einzelbeiträge des Buches nicht auf einander abgestimmt worden sind und so bestimmte stilistischen Vorlieben des Autors immer wieder durchschlagen. Allerdings darf man dabei nicht verkennen, daß Hans Mayer auch der Meister der Nuance ist: Die Wiederholungen stimmen so nicht nur in einen Rhythmus der Reflexionen ein, sondern lassen auch kleine Differenzen erkennen, und seien es nur plötzlich gesetzte Anführungszeichen, die den Akzent entscheidend verändern.

    Mayer gelingt es so immer wieder, bekannte Konfigurationen in ein neues Licht zu stellen, in dem vor allem die auffälligen Gegensätze bei Goethe in einem dialektischen Zusammenhang erscheinen. Neben den mit seiner nahezu zwanghaften Wahrung der Gesetzesordnung noch ganz der Aufklärung verhafteten Denker tritt der Dichter der "Wahlverwandtschaften", die als erster bürgerlicher Desillusionierungsroman auch von den Romantikern nicht verstanden wurden. Goethe war genau genommen die Figur eines Zwischenreichs, das im paradoxen Übergang vom "Nichtmehr zum Nochnicht" weder in der Zeit noch im Publikum Widerhall fand. Gerade dadurch bleibt sein Werk ewig jung und zeigen uns auch die seitenreichen Überlegungen Mayers, daß die Goethe-Philologie gerade erst am Anfang steht.