Rechnen wir nach! Die über tausend Seiten des zweiten Bandes gelten nur den 14 Jahren von 1790 bis 1803 - also einer Zeitspanne in Goethes Leben, die kaum so erfüllt war wie die, der sich der erste Band zugewandt hat. Für Goethes Frankfurter Kindheit und Jugend, für die Leipziger Studiensemester und die Straßburger Sturm-und-Drang-Zeit incl. Werther und Götz, für die große Lebenskrise des Junggenies und seinen überraschenden Gang nach Weimar, für die Staats- und Starkardere des ehemals jungen Wilden und seine Kapdzen wie die Harzreise im Winter, für den komplizierten Umbau seiner Persönlichkeitsstruktur mit Frau von Steins Hilfe und die neuwilde Zeit in Italien - für dieses bewegte Leben brauchte Boyle "nur'die 885 Seiten des ersten Bandes. Der dritte und letzte Band seines gewaltigen Werkes liegt noch nicht vor. Aber er wird dreißig hochproduktive Altersjahre mit Werken wie Die Wahlverwandtschaften, Wanderjahre, Faust 11, den West-Östlichen Divan und Dichtung und Wahrheit zum Thema haben. Viel Glück - man darf aufrichtig gespannt sein!
: Schon dieses simple Rechenexempel macht deutlich, daß Boyle über starke Gründe verfügen muß, um den Mittelteil seiner Trilogie so stark anschwellen zu lassen. In abenteuerlichen Umständen von Goethes Leben zwischen 1790 und 1803 können diese Gründe nicht liegen. Goethe ist, aus Italien zurückkehrend, 40 Jahre alt, er lebt - mit der bedeutenden Ausnahme seiner Teilnahme am Feldzug gegen die französischen Revolutionstruppen, die Boyle hinreißend schildert - behaglich, seine Leibesfülle nimmt beträchtlich zu, wie die lästerliche Zeitgenossen, aber auch der 1950 geborene und also mit dem von ihm dargestellten Goethe etwa gleichaltrige britische Biograph wiederholt feststellen, und der Geheimrat zieht sich weitgehend aus der aktiven Regierungsarbeit ins Privatleben mit der Geliebten Christiane Vulpius und dem Sohn August zurück. Also: ein vergleichsweise behäbiger Lebensabschnitt. Aber, so Boyles erstes Argument, ein verhältnismäßig stabiles Leben in bemerkenswert bewegten Zeiten. Die welthistorischen Ereignisse von 1789 und ihre abgründigen Folgen haben in Goethe, aber eben nicht nur in Goethe einen hellwachen Zeitgenossen. Und so erklärt sich äußerst profan der Umfang dieses Bandes: Boyle behandelt tatsächlich den Dichter"in seiner Zeit". Ziemlich genau die Hälfte seiner Darstellung hat nicht unmittelbar mit Goethe zu tun. Sondern eben mit seiner Zeit und seinen Zeitgenossen. Man kann es höflich ausdrucken: Boyle schreibt leserfreundlich. Er erspart uns den Gang zu historischen oder philosophischen Lexika, weil er bemerkenswert ausführlich und mit großer Erzähllust und -kunst (der sich sein Obersetzer souverän gewachsen zeigt) darstellt, welche Schlachten Napoleon wie geschlagen hat und was in Schillers Maria Stuart' geschieht.
Man kann es natürlich auch unhöflich ausdrucken: Boyle schreibt rücksichtsvoll auch für Halbgebildete, die zu Namen wie Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schleiermacher, Tieck und Schlegel wohl einige Assoziationen haben, aber nicht eigentlich wissen, welche Denkmotive diese Köpfe eigentlich umgetheben haben. Boyles Referate zu diesen und vielen anderen Namen sind durchweg konzise - aber naturgemäß nicht auf der Höhe und von der Prägnanz, die etwa den besessenen Scheiling-, Hegel- oder Romaptikenthusiasten kennzeichnet. Boyles Vorteil-. er stellt die Zeitgenossen und ihre Werke so dar, wie Goethe sie rezipierte, verwendete und verwertete. Sein Buch ist in einem Maße kontextbezogen wie keine andere Goethebiographie zuvor. Diese Lust an der enzyklopädischen Ausschweifung ist ihre Schwäche und ihre Stärke.
Denn erst diese intensive Zuwendung zu den Konstellationen, Kontexten und Hintergründen von Goethes Werken macht deren Sonderstellung deutlich. Schon auf der ersten Seite bringt Boyle einen Hinweis, der ins Zentrum seiner Goethe-Charaktedsierung zielt. Dort findet sich die lakonische Bemerkung: "Ich habe den Ausdruck klassisch' zur Bezeichnung dessen, was Goethe in diesen Jahren schrieb, nicht nützlich gefunden" Das ist umso bemerkenswerter als der zweite Band von Boyles Goethe-Biographie ja gerade den immer wieder als hochklassisch stilisierten Jahren der Freundschaft mit Schiller gilt. Boyle aber versteht Goethe als denjenigen, der vom klassisch-romantischen "common sense" des Glaubens an die Kraft des Guten, Wahren und Schönen abfällt.
Boyle entdeckt zwar nicht als erster, aber mit gelassen charmanter Hartnäckigkeit den Antiklassiker Goethe, der auf seltsame, irritierende, nicht eigentlich konsensfähige Motive und Themen fixiert ist. Ein Beispiel nur: Wilhelm Meister ist mit der tiefsinnigen, weil oberflächlichen Ausnahme von Philine auf Frauen fixiert, denen amazonenhafte Qualitäten eignen. Seine erste Liebe Madane spielt bevorzugt Hosenrollen, Therese trägt eine Jägeruniform, Aurelie Männerkleidung, Mignon bittet darum, nicht nach Mann und Weib zu fragen, und Nathalie wird ausdrücklich als Amazone bezeichnet. WM / Wilhelm Meister / Weib, Mann: Goethes Fixierung auf androgyne und hermaphroditische Motive macht sich auch in den heute nur noch den beamteten Profis und wirklichen Goethekennnern bekannten Werken bemerkbar, die Boyle als die besten der eben nicht klassischen Periode Goethes kennzeichnet: die "überragende Dichtung" des Dramas Die natürliche Tochter und das noch weniger bekannte Gedicht der Wechselrede zwischen einem "Er' und einer "Sie", das Boyle als "eines der schönsten Gedichte Goethes" überhaupt kennzeichnet: Der neue Pausias.
"Mit dem Reichtum seiner Themen, der subtilen Psychologie der Erzählung und der ungebrochenen glückhaften Stimmung ist Der neue Pausias eines der schönsten Gedichte Goethes; trotzdem ist es wenig bekannt. (... ) der unerbittliche Formalismus der alternierenden Distichen hat gegen das Gedicht gesprochen und seine Struktur verdeckt. Sie sind jedoch für seinen bemerkenswertesten Aspekt unabdingbar: das vollkommen gleichgewichtige Zusammenspiel der Männer- und Frauenstimme. Bei der Erzählung der Schlägerei spricht jeder nur von dem, was er vom anderen oder am anderen gesehen hat. Ein gewichtigerer Grund dafür, dem Urteil August Wilhelm Schlegels, es sei Der neue Pausias ein "gefährlicher Nebenbuhler" für Alexis und Dora, nur zögernd zu folgen vermochte, könnte die leichte Aura von männlicher Wunscherfüllung sein, die die Figur der - privatim - unendlich geneigten Lehrmeisterin der Liebeskunst umgibt."
An solchen Wertungen wird eher als an allen Ausführungen über Goethes Verhältnis zur französischen Revolution oder zu Goethes Kant-Rezeption deutlich, welchen hartnäckig gelassenen Neuansatz Boyle wagt, Gelassen darf er genannt werden, weil er auf die Radikalität verzichtet, die die Goethe-Biogr hie des kürzlich verstorbenen amerikanischen Psychoanalytikers Kurt R. Eissler kennzeichnet Wo Eissler den buchstäblich verrückten Fixierungen Goethes nachgeht, bleibt Boyle bei der zurückhaltenden und doch eindringlichen Rhetodk, die nicht behauptet, sondern nahelegt und zu denken gibt. Konkret: wo Eissler die unübersehbare Inzestmotivik der Goethe-Werke (über das GeschwisterDrama, lphigenie und Orest bis zum Inzestprodukt Mignon) eindringlich mit Goethes Fixierung auf seine frühverstorbene Schwester Cornelie erklärt, wo Eissler sich zu so großartigen Absonderlichkeiten hinreißen läßt wie zu der Behauptung, Frauen, die Goethe in einer gewissen Lebensphase faszinierten, müßten die Initialen CvS tragen: Cornelie von Schlosser, Corona von Schröter, Charlotte von Stein - da bleibt Boyle britisch gelassen. Er macht Andeutungen über Goethes bisexuelle Neigungen, breitet Material aus, insinuiert auch mal galant, aber bleibt das, was zu sein einen heilig nüchternen Biographen auszeichnet: ein glücklicher Positivist.
Die Faszination, die von dieser in ihr Thema verliebten Biographie ausgeht, liegt in diesem Positivismus. Boyle liest Goethe, als gäbe es nur Quellen und keine Sekundärliteratur. Und da die Forschungsliteratur zu Goethe zu gut achtzig Prozent nachweislich die Aufgabe erfüllte, Goethes Werke zu mortifizieren, ihre Skandale und unklassichen Absonderlichkeiten interpretatorisch abzutreiben, ja unlesbar zu machen und also Goethe zum Totemtier des deutschen Bildungsbürgertums zu machen, kann es ihm mit eleganter Nonchalance gelingen, ein ungewöhnliches Goethebild zu zeichnen. Die kleinen Schwächen seines Werkes liegen naturgemäß darin, daß er die allenfalls 10 Prozent wirklich aufregender Literatur zu Goethe nicht eigentlich rezipiert. Auch hier nur zwei Beispiele: Goethes Kant-Rezeption spielt bei Boyle aus gutem Grund eine entscheidende Rolle. War sie doch deutlich intensiver als gängiger Weise angenommen wird. Und teilt sie doch Kants Grundgestus: zu wissen, daß wir nicht wissen können, wie es eigentlich bzw. an sich um Gott und die Welt bestellt ist. Am farbigen Abglanz bzw. an Konstruktionen haben wir das Leben. Wie intensiv und mit welchen Akzentsetzungen, genauer: Anstreichungen an seinen Kantbüchern Goethe die kritische Philosophie rezipiert hat, eben dies aber haben Untersuchungen Geza von Molnärs akribischer und klarer gezeigt als Boyle.
Das zweite Beispiel: wie intensiv Goethe sich mit Fragen der Nationalökonomie beschäftigt hat, wie durchschlagend diese Beschäftigung für den Wilhelm-Meister-Roman und das Faust-Drama war, haben u.a. die Arbeiten von Binswanger, Engelhardt und Schlaffer klargestellt. Daß Goethe zu den ersten deutschen Lesern des grundstürzenden Werkes von Adam Smith über The VVealth of Nations gehörte, kommt in Boyles Darstellung nicht vor. Der britische Germanist mit dem erfrischenden Blick auf Goethe, der nicht deutschbildungsbürgerlich programmiert ist, bemerkt zwar die aufregenden Dimensionen der Mephisto-Gestalt. Der betritt die Bühne und stellt sich sogleich mit einem "Rätselwort" vor. Er sei "ein Teil on jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft." Das ist in eine Kultur, die deutsche nämlich, hineingesprochen, die sich von anderen Kulturen durch selbstbewußte Betonung ihrer eigenen Moralität absetzen wollte.
Franzosen galten als frivol-oberflächlich, Italiener als genußsüchtig-unzuverlässig und Engländer als obskur-perfid. Deutsche aber nahmen sich selbst gerne als aufrecht, gut und ordentlich wahr. Deutsche machen beflissen ihre moralischen Hausaufgaben, Gerade ihnen aber mutet Goethe eine unordentliche, nämlich dialektische Überlegung zu: der Mephisto-Satz vom bösen Wollen, das das Gute schaffe, schreit ja geradezu nach seiner Umkehrung. Und die lautet: der penetrante Wille, dem Guten zu dienen, kann üble Konsequenzen haben. Denn der, der sich selbst als "gut" und gutwillig bezeichnet, muß sich dazu von den Bösen absetzen und sie bekämpfen. Eine Entgegensetzung, die, wie schnell ersichtlich, üble Effekte freisetzen kann. Boyle macht immerhin darauf aufmerksam, daß Goethe hier ein Denkmotiv aufnimmt, das Milton in seinem Epos vom Paradise lost ausgestattet hat. Dort ruft Satan aus: Evil be thou my good!" Natürlich ist auch Miltons Zeile nicht originär. Sie referiert auf den Römerbrief 3,8: "Lasset uns Übles tun, auf daß Gutes daraus komme".
Daß Mephistos Worte zugleich nichts anderes sind als die bündige poetische Übersetzung profanen Grund-Einsicht von Adam Smith ins Deutsche, bezeugt Goethes intellektuelle und stilistische Überlegenheit gegenüber seinen fundamentalphilsophischen, auf Grundsatzsuche befindlichen deutschen Zeitgenossen. Boyle ist der Lösung des mephistophelischen Rätselworts nahe, aber eben nur nahe. Daß "private vices", also persönliche Laster wie Egoismus, Gewinnstreben und Geiz zu "public benefits" werden können, also zum Wohl der Allgemeinheit beitragen, war der Kernsatz des Nationalökonomen, dessen Hauptwerk The Wealth of Nations 1776 und also in dem Jahr publiziert wurde, in dem Goethe in VVeimar Minister wurde (alsbald auch Finanzminister!). Goethe zählte zu den ersten deutschen Lesern dieses Werkes. Seine intellektuellen Zeitgenossen zogen es hingegen vor, Kant, Fichte und Scheiling zu lesen. Goethe aber läßt Faust darüber stöhnen, daß er genug Theologie und Philosophie studiert habe. Und er läßt ihn zu Beginn von Faust 11 zusammen mit Mephisto Finanzminister am kaiserlichen Hofe werden ...
Kurzum: Boyle bleibt letztlich doch bei den tradierten Koordinaten. Auf den zweitausend Seiten seiner bislang vorliegenden Goethe-Biographie kommen Kant und Schelling, Hölderlin und Hegel (um von Leibniz zu schweigen, dessen Einfluß auf deutsche Mentalitätsstrukturen, die Goethes incl., Boyle seltsam überschätzt) hundertfach vor. Adam Smith aber wird nur zweimal erwähnt - und dann mit seinen im engeren Sinne moralphilosophischen Publikationen. Aber Boyle verschiebt die tradierten Koordinaten. Sein zweiter Band endet mit einer überraschenden, weil ungewöhnlichen, aber eben auch überraschend produktiven Parallellektüre von Goethes Drama Die natürliche Tochter und Hölderlins Patmos-Hymne:
"Die Revolution war für Höldedin das entscheidende öffentliche Ereignis seines Lebens; die Enttäuschung der von ihm und seiner Generation in sie gesetzten Hoffnungen auf die Herstellung der menschlichen Ganzheit war eine der Quellen seiner reifen Dichtung. Für Goethe hatte die Revolution fast die entgegengesetzte Bedeutung, als Zerstörerin der Hoffnungen, die er vorher gehegt hatte, und der Grundlagen, auf denen er die Ganzheit seines Lebens und seiner Kunst zu A-rrichten gedachte. Doch der Geist der Zeit, der ihrer beider Schicksal schon weit voneinander entfernt hatte, vereinigte 1803 die zwei größten Dichter Deutschlands ohne ihr Wissen in der gemeinsamen Anstrengung, die Zeichen der Zeit zu lesen. (... ) Am Ende von Patmos überläßt es Höldedin deutschem Gesang', einen Weg durch die Zukunft weihevolle,rentbehrung zu bahnen. Am Ende der Natürlichen Tochter tritt Eugenie in eine heilige Dunkelheit, in welcher die einzige Aussicht auf Licht ihre Hoffnung auf die glorreiche Heimholung durch die Entdeckung eines Gedichts ist, und es ist nicht wahrscheinlich, daß irgendein zweites Stück ein grundsätzlich anderes Ende gehabt hätte."
Daß der Geist nur dann bei sich selbst ist, wenn er sich seinem Ursprung entfernt hat, belegt auch Boyles Biographie. Spannend ist sie all ihrer epischen Breite zum Trotz zu lesen - auch deshalb, weil sie die Kunst der @einen Seitenbemerkung beherrscht. In ihr finden sich lakonische Sätze wie diese: "Der undurchsichtige Frieddch Gentz fand einen Abend bei Goethe, in Gesellschaft Herders, Schillers und Wielands "froid, et presqu'insipide frostig fast öde" (was er zweiffelos war, verglichen mit den flotten Dreiern, denen er in Gesellschaft Wilhelm von Humboldts und mancher Schönen von der Straße zu frönen pflegte)."
Das Leben in Weimar mag so aufregend nicht gewesen sein wie das in Berlin. In Metropolen wie London oder Paris hat Goethe sich nie aufgehalten. Rom ist die eine bedeutende Ausnahme, die diesem Leben das Maß an äußerer Exzenthzität gegeben hat, das es brauchte, um den fremden Blick auf die eigene Kultur zu werfen. Boyle schildert Goethe als das Paradox des Außenseiters, der es für einige Zeit verstanden hat, zum Zentrum zu werden. Der Preis dieser Paradoxie ist hoch - er heißt: systematische Mißverständnisse. Boyles Biographie ist ein Stück Freilegungsarbeit. Sie will die durchschlagende Wirkungslosigkeit nicht eines, sondern des deutschen Klassikers, der keiner war, wenn nicht beenden, so doch namhaft machen. Das ist ihr geglückt.