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Goethe-Lexikon

"Wenn einem Autor ein Lexikon nachkommen kann, so taugt er nichts,' behauptete Goethe in seinen "Maximen und Reflexionen". Doch weder er selbst noch Gero von Wilpert und sein neues Goethe-Lexikon müssen sich von diesem Verdikt disqualifiziert fühlen, im Gegenteil. Als Autor des enzyklopädischen 18. Jahrhunderts hätte Goethe den umfassenden und kenntnisreichen Generalzugang zu schätzen gewußt, den Wilpert mit seinem Goethe-Lexikon allen Interessierten an dem literarischen deutschen Klassiker schlechthin jetzt bietet. Wilperts Name bereits garantiert diesem Unternehmen solide, handwerklich beinahe unanfechtbare Qualitäten; sein "Sachwörterbuch der Literatur' beispielsweise, mittlerweile in vielen Auflagen verbreitet, ist, bis heute, für Generationen von Studenten und Lehrern der Literatur zu einem unentbehrlichen Handwerkszeug geworden. Ähnlich erschöpfend wie dieses und andere Werke des Literaturwissenschaftlers, der über 20 Jahre lang eine Professur im australischen Sydney betreut hat, ist auch Wilperts Goethe-Lexikon angelegt, allerdings deutlich mit Blick auf eine breitere als die reine Fachöffentlichkeit. Für Gelehrte wie interessierte Laien gleichermaßen schlägt dieses Lexikon, auf mehr als 1200 Seiten, eine mutige Schneise in die Textgebirge des Weimaraners selbst und in die nun seit über 200 Jahren anhaltende wissenschaftliche Beschäftigung mit Person und Werk dieses Universalgenies.

Andreas Graf |
    In rund 4000 Artikeln werden alle wesentlichen Namen, Titel, Sachen, Örtlichkeiten und Begriffe aus Goethes Leben und Werk erfaßt-. von Aachen - einer Stadt, die, wie wir erfahren, Goethe nie besucht hat - bis Zwischenkieferknochen, jener epochalen Entdeckung Goethes bei seinen Studien zur menschlichen Anatomie. Wilpert hat damit ein fundamentales Hilfsmittel für Goethefreunde und Goetheieser vorgelegt, das sich in Zukunft vermutlich als ähnlich unentbehrlich erweisen wird wie seine früheren Handbücher. Besonders bemerkenswert ist, daß hier ein epochales Projekt als Einmann-Unternehmen präsentiert wird, wie es in der Vergangenheit, trotz einiger Versuche, nicht mal ganze Forschergruppen zustande bekommen haben. Eine bewundernswerte Leistung, die zumal auch dem angeschlagenen Ruf einer gewissen deutschen Literaturwissenschaft aufzuhelfen vermag, die im Projektemachen groß ist, aber allzu häufig über Anfänge nicht hinauskommt. Natürlich muß sich ein solches Unternehmen, das einhändig konzipiert ist und ohne Hilfsmittel aus öffentlichen Fördertöpfen auskommt, gewisse Beschränkungen auferlegen: diese bestehen vor allem darin, daß fast ausschließlich reines "Sachwissen" vorgelegt wird, dokumentarisch nachweisbare Fakten, Daten, Personen, Werke usw., daß dagegen Interpretationshilfen für die umfassend dokumentierten Werke Goethes nur sehr vorsichtig angedeutet werden. Auch die breite Wirkungsgeschichte Goethes in der europäischen Geistesund Kulturgeschichte bleibt ausgeklammert, soweit sie nicht konkrete einzelne Werke betrifft (wie etwa beim "Wertherfiebee') oder von Personen getragen wird, die Goethe noch persönlich gekannt haben. Von Thomas Manns lebenslanger Beschäftigung mit Goethe, die in einem Dutzend Aufsätzen und einem Goethe-Roman fruchtbar wurde, erfahren wir bei Wilpert demgemäß fast nichts.

    Auch die psychologisch deutende Goethe-Forschung faßt Wilpert nur mit eher spitzen Fingern an: seine Abwehr der gefürchteten "Oberinterpretation" geht sogar so weit, daß beispielsweise unter dem Stichwort "Biographien" als "wichtigste' zwar 13 Biographen angeführt werden, darunter Friedenthal und Conrady, nicht aber die grundlegende und als Taschenbuch weit verbreitete Studie über den jungen Goethe des Psychoanalytikers Kurt Eissler.

    Doch innerhalb dieses Rahmens bietet Wilpert Imponierendes. Ob man nun Goethes Vorliebe für Wein oder sein Verhältnis zum Kartenspiel nachschlagt, ob man die Frauen in seinem Leben oder seine amtlichen Tätigkeiten in den Blick nimmt, ob "Werther' oder "An den Mond", ob "Faust" oder "Wilhelm Meister', von "Farbenlehre" bis "Schweiz" und von "Krankheit" bis "Amazone", immer stößt der Interessierte auf einen ebenso knappen wie fundierten Artikel, der die wesentlichen Fakten darstellt, Bezüge herstellt und in den meisten Fällen auch noch die wichtigsten Literaturhinweise zur vertiefenden Beschäftigung liefert. (E in Buch zum Blättern, Stöbern und sich fest lesen, zum Entdecken und Wiederentdecken, zum Einstieg und zur Vertiefung, als wissenschaftliches Nachschlagewerk ebenso geeignet wie zur gehobenen Unterhaltung; wunderbarerweise sogar abgefaßt in vollständigen Sätzen, ohne den leidigen lexikalischen Telegrammstil. Ein Werk, an dem künftig, nicht nur im Jubiläumsjahr, kein Goethe-Interessierter vorbeikommen wird.