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Goethe-Reisen

Nicht Goethes Reisen, sondern Goethe - Reisen, so lautet der Titel. Die beiden Wörter sind aufeinander bezogen, aber auch voneinander getrennt. Wer Jochen Schützes Essay-Band 'Gefährliche Geographie` kennt, der innerhalb seiner Reflexionen über das Reisen auch eine Theorie der Seßhaftigkeit entfaltet, wird darauf vorbereitet sein: Das Nachdenken über den abwesenden Herrn von Goethe gilt zugleich dem anwesenden Herrn von Goethe. Sein Aufbruch zur 'Italienischen Reise' wird überbewertet. Dazu Schütze:

Joachim Büthe |
    "Goethe geht mit Konzepten auf die Reisen. Die Geschichte der Flucht nach Italien ist, meiner Meinung nach, ein Mythos, den er natürlich stilisiert, der aber auch dankbar von der Literatur übernommen wurde. Goethe weiß genau, was er mit diesen Reisen will. Das paßt hinein in Wahrnehmungskonzepte oder zumindest Wahrnehmungsprogramme, die er zeitlebens verfolgt."

    Goethe war nie weg, so lautet gleich der erste Satz des Buchs. Er hat stets versucht, seine Abwesenheit als fehlende Anwesenheit zu inszenieren und somit dennoch zugegen zu sein. Und in der Fremde hat er nicht das Fremde gesucht:

    "Da versuche ich", so Schütze, "aus den Schriften, aus den Berichten über die Reisen herauszufinden, daß Goethe, wenn er gereist ist, immer das Bestreben hatte, und es ihm wohl auch meistens gelungen ist, sich überall, wo er hinkam, zu hause zu fühlen. Also keine Fremde aufkommen zu lassen, das Reisen nicht gefährlich werden zu lassen. Sondern, so wie er seine kleine Welt zuhause beherrscht hat, durchherrscht hat, so auch mit den Orten umzugehen, an die er gereist ist."

    Goethe hat sich als Glied in einer Kette von Reisenden gesehen. Er hat Italien bereits gekannt, aus den Beschreibungen seiner Vorläufer. Es geht also darum, etwas wiederzufinden und ihm etwas hinzuzufügen. Wer diesem Konzept folgt, darf nicht zu weit gehen. In der Regel ist ihm das gelungen.

    "Die einzige Ausnahme ist der Abstecher nach Sizilien, den er von Neapel aus unternommen hat. In Sizilien stößt er plötzlich auf etwas, das in dem italienischen Reisekonzept so noch nicht vorgesehen war. Ich bin mir selbst noch nicht hundertprozentig klar darüber, vermute aber, daß ihm in Sizilien ein Bild der Antike widerfährt, das in den Bildungsvorgaben, die er von seinem Vater und allem eigenständigen Wissen über Italien besaß, das in dieser Bildungsvorgabe so nicht vorkam. Nämlich Natur pur, sozusagen, etwas Wildnis, etwas Ungeordnetes, Chaotisches, das zu starke Düfte hat und viel zu großartige Bilder, die man mit dem bis dahin gängigen kulturellen Handwerkszeug nicht ohne weiteres beherrscht. Und prompt kehrt Goethe dort auch um."

    In einem anderen Zusammenhang läßt Goethe Fremdheit zu. Es ist eine Fremdheit, die er, zumindest partiell, kontrollieren kann, ein Spiel mit der eigenen Identität. In der Fremde probiert er andere Identitäten an, schwankt zwischen dem Wunsch, erkannt zu werden und sich zu verstecken. "Warum reist Goethe inkognito? Dann kommt man natürlich darauf, daß das Inkognito-Reisen einmal ein fürstliches Vorrecht gewesen ist. Und wenn man das weiß, dann wird die Frage umso spannender, warum ein Bürger sich anmaßt, inkognito zu reisen. Nun kann man die Frage natürlich ganz simpel beantworten und sagen, Goethe ist bekannt, er möchte seine Ruhe haben und reist deshalb unter anderem Namen. Das stimmt nicht, das reicht nicht aus." Goethe reist- auch in Gegenden, wo man ihn nicht kennt und zu Zeiten, da er noch nicht bekannt ist, inkognito.

    "Das ist tatsächlich ein Spiel, ein relativ souverätnes Spiel mit dem, was man Identität nennen könnte. Es ist ein Verzicht auch, ein spielerischer Verzicht auf die bloß eine Identität."

    Der fliegende Rollenwechsel, die Aufspaltung der festgefügten Identität, das ist etwas, an das sich der heutige, moderne Mensch gewöhnt hat. Damals war es neu. In der Literaturgeschichtsschreibung gilt es als ausgemacht, daß die Romantik die Wurzel der Moderne sei und die Klassik ihr Antipode. Jochen Schütze ist sich da nicht so sicher:

    "Das ist eine These, die an verschiedenen Stellen des Buches angesprochen wird. Die Grundidee ist einfach, daß das, was gemeinhin als Klassik bezeichnet wird, wenn man sich Goethe genauer anschaut, viel mehr mit modernen, im weitesten Sinne struktural verfahrenden Ästhetiken und Weltauffassungen zu tun hat, als man bisher angenommen hat. Natürlich ist die Romantik der eine große Weg in die Moderne. Aber ich vermute, daß man bei dieser Sicht auf die Romantik allzu sehr vernachlässigt hat, daß, abgesehen von politischen, konservativen Aspekten der Klassik, dort eine Art von Kunsttheorie entwickelt wird, die immerhin zu der Idee des autonomen Kunstwerks führt. Das heißt zu der Idee eines Kunstwerks, das nur seinen eigenen Gesetzen folgt. Und wenn man das wiederum weiterdenkt, zu einem Kunstwerk, daß auch von seinem Sujet unabhängig ist, daß im modernen Wortgebrauch dann abstrakt werden kann."

    Den Seitenweg verfolgen, der aus der Klassik in die Moderne führt, ist eines der Anliegen des Unternehmens 'Goethe - Reisen'. Da Goethe nicht ängstlich auf der einen Identität beharrt, bereitet es ihm keine Probleme, sich selbst zu widersprechen. Also kann es kein einheitliches Goethe-Bild geben. Der Goethe Nietzsches, und ihm ist Schütze auf der Spur, ist ein völlig anderer als der der deutschen Innerlichkeit und Goethes Behagen entsteht fern der Gemütlichkeit. "Bei Goethe habe ich den Eindruck, daß dieser Begriff des Behagens, der auch das gesamte Werk durchzieht, wenig mit Bequemlichkeit zu tun hat oder mit Gemütlichkeit gar, sondern sich nur dann einstellt, wenn es ihm gelungen ist, seine Umwelt zu bestimmen, daß er sie beherrscht. Es ist natürlich eine Daseinsform die auf alle Fälle, die ständig Widerspruch erregen muß. Ich denke, eine Grundidee Goethes ist, bloß selbst nie in die Opposition zu geraten. Wieviel Opposition auch immer ihm entgegengebracht wird, spielt keine Rolle. Das kann er verkraften, er ist natürlich ein Machtmensch. Bloß selbst nie in die Opposition, in diese traurige Rolle, in diese Rolle des unglücklichen Bewußtseins geraten die wäre unbehaglich."

    In seiner Weigerung, an der Welt zu leiden, steht Goethe gewiß im Widerspruch zur Romantik. Das ist ihm oft und nicht zu unrecht als Opportunismus angekreidet worden. Doch ein sich Fugen ist Goethes Behagen nicht. Es unterscheidet sich auch vom passiven Genuß.

    "Indem das Behagen Ausdruck der Durcharbeitung der Welt, in der er lebt, ist. Es ist nicht etwa ein sich Hinsetzen. Es ist nicht das seßhaft Sein in dieser kleinen Welt. Sondern es ist eher ein Listen, mit allen Bedingungen, die nötig sind, damit eine solche kleine Welt auch ständig reproduziert werden kann. Damit sie immer neu funktioniert."

    Goethe hat sich seine Welt organisiert. Deshalb konnte er auf Reisen gehen, aber er mußte es nicht: "Er hat es nicht nötig gehabt, weg zu sein. Wo immer er auch hinging, war es - im Grunde ein Akt, die Welt dazu zu zwingen, zu ihm zu kommen."