"Goldberg Variations"
...am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Ely. Herzlich willkommen zu neuen Aufnahmen aus dem Genre Kammermusik. Das Bach-Jahr 2000 unterscheidet sich vom Gedenkjahr 1985 unter anderem dadurch, daß nun stärker die Spuren gesucht werden, die Johann Sebastian Bach in der Geschichte, vor allem in der Musikgeschichte hinterlassen hat. Eine der beiden Neuproduktionen, die ich Ihnen heute vorstellen möchte, erzählt davon; da geht es um die Sonaten op. 42 für Violine solo von Max Reger. Die andere Neuproduktion ist Teil einer unendlichen Geschichte. Einmal mehr hat sich ein namhafter Pianist in die Goldbergvariationen vertieft: Evgeni Koroliov. Seine Einspielung ist auf einer Doppel-CD im Rahmen der verdienstvollen "Edition Bachakademie" bei Hänssler erschienen. Koroliov benötigt für die 30 Variationen und insgesamt 32 Nummern 1 Stunde 25 Minuten, und wenn man die Aria zu Beginn hört, glaubt man auch schon gleich zu wissen, warum. * Musikbeispiel: J.S. Bach - 1. Aria aus: Goldberg-Variationen BWV 988 Fast geschlagene fünf Minuten lang breitet Evgeni Koroliov das Thema zur vierten Klavierübung von Johann Sebastian Bach aus, die Aria der Goldbergvariationen. Das ist lang. Man möchte sagen: Elend lang. Aber Koroliov, der in Hamburg unterrichtet, ist ein eminent reflektierter Musiker. Wer ihm zuhört, tut gut daran, sich erst einmal auf die Besonderheiten dieses Pianisten einzulassen. Koroliov kommt aus der Moskauer Schule. Einer seiner Lehrer war Lew Oborin, einer seiner Mitschüler der Dresdner Pianist Peter Rösel, auf den er dann auch beim Tschaikowsky-Wettbewerb traf. Für die russische Tradition ist Bach ein Übervater, und wer immer in Moskau oder Leningrad mit dem Werk dieses Giganten sich auseinanderzusetzen hatte, lernte, auch jene Noten mit tiefster Bedeutung aufzuladen, die womöglich einfach nur dem musikantischen Genie des altdeutschen Großmeisters entsprungen waren. Will sagen: Auch ein Pianist wie Koroliov ist auf Tiefsinn geradezu fixiert, und tatsächlich macht er aus den Goldberg-Variationen einen faszinierend tiefsinnigen Zyklus. Wer dem zu folgen bereit ist, gewinnt aus dieser Einspielung viele überraschende Erkenntnisse. Vor allem macht Koroliov Ernst mit einer besonderen Perspektive, die er auch im Interview hervorhebt: Er hört die Goldberg-Variationen ab auf jene Momente von aufgehobener Geschichte, in denen Anklänge, manchmal auch Modelle aus der gesamten Entwicklung der Klaviermusik bis zu Bach sich manifestieren. Das ist in der Tat spannend, auch wenn der eminent sachliche, bisweilen fast trockene Tonfall Koroliovs dem bisweilen ein wenig im Wege steht. Das utopische Potential, das so manch anderer in dieser vierten Klavierübung sieht, ist weniger die Sache dieses Pianisten. In erster Linie interessieren ihn aber formale Probleme, Fragen der Architektur. Um deren Klarheit ist es ihm zu tun, und dafür setzt er das ganze Präzisionswerk seines Anschlags in Bewegung. Die Kühnheit eines Glenn Gould ist ihm freilich nicht zu eigen. Und ein Pianist wie Andras Schiff scheint um einiges aufregender, denn Schiff hält in seiner Interpretation eine traumsichere Balance zwischen entwickelter Variation einerseits - auch bei ihm erscheinen die Goldberg-Variationen als eine Art unendlicher Passacaglia - und Charakterstück anderseits; das heißt, er stellt immer wieder momenthaft den Gesamtbau in Frage, läßt die Architektur fragil erscheinen und führt Bach als einen Musiker vor, der aus dem selbstgeschaffenen System auszubrechen versucht, um das Ganze dann eben doch in eine höhere Ordnung zu bringen. Bei Koroliov ist die Ordnung strikt vorgegeben und entspringt einer fast schon religiösen Haltung gegenüber unserem diesjährigen Jubilar. Das ist, wie gesagt, sehr faszinierend, weil konsequent durchdacht und konsequent gespielt. Es dauert halt beinahe anderthalb Stunden wie jedes vernünftige Hochamt. Die pianistischen Mittel, die Koroliov dabei einsetzt, entspringen einer Souveränität, der man nur Bewunderung zollen kann. Die Variationen 16 - 18: * Musikbeispiel: J.S.Bach - aus: Goldberg-Variationen BWV 988 Evgeni Koroliov mit den Goldberg-Variationen Nr.16-18, also aus der Mitte der Zyklus. Deutlich wird hier auch, wie Koroliov die Frage der Register zu handhaben gedenkt. Erschienen ist die Doppel-CD, wie gesagt, im Rahmen der Edition Bachakademie bei Hänssler. Zu Beginn der Sendung hatte ich auch etwas zum Thema "Bach und die Folgen" angekündigt.