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Gorki-Theater-Saison
Neustart mit Russen in Berlin

Intendantin Shermin Langhoff eröffnet mit dem Erfolgsregisseur Nurkan Erpulat die neue Gorki-Theater-Saison. An einer detaillierteren Figurenzeichnung hat Erpulat kein Interesse, ihm geht es um grelle Kulturkontraste.

Von Eberhard Spreng | 17.11.2013
    Nein, ein "Migrantenstadl" solle es nicht sein, sagte Shermin Langhoff vor einiger Zeit über ihr Theater im Ballhaus Naunynstrasse. Also nicht ein Ort, an dem man mit Klischees und Zuweisungen zwischen Deutschen und Türken, politisch korrekt: Deutschen mit Migrationshintergrund und Deutschen ohne Migrationshintergrund billige theatralische Showeffekte erzielen will. Obwohl "Verrücktes Blut", Nurkan Erpulats Erfolgsstück des Hauses und 2011 zum Theatertreffen eingeladen, durchaus Figuren vorführte, die ziemlich unverhohlen in die Stereotypenkiste gegriffen hatten.
    Jetzt, am Gorki-Theater in Berlin-Mitte quasi in der Hochkultur angekommen, eröffnet Shermin Langhoff mit dem Erfolgsregisseur Nurkan Erpulat die neue Gorkitheater-Epoche. Und wo "Verrücktes Blut" ein Zeitstück mit griffig-eindeutigem Plot und Personen war, so ist dieser Kirschgarten nun mehr wirklich: ein Migrantenstadl, also lustiges Boulevard mit "postmigratischen" Schauspielern: An einer detaillierteren Figurenzeichnung hat Erpulat kein Interesse, ihm geht es um grelle Kulturkontraste. Und so lässt er in den "Lindenbaum" des sangesfreudigen Ensembles die Melismatik der Sesede Terziyan einfließen.
    "Ich mußt' auch heute wandern Vorbei in tiefer Nacht, Da hab' ich noch im Dunkeln Die Augen zugemacht."
    Das berühmte Volkslied ist gern wiederholtes Leitmotiv. Er seht für eine deutsche Version des Heimatbegriffs, der im Laufe der Aufführung musikalisch transformiert wird und schließlich einer pulsierenden orientalischen Hochzeitmusik weichen muss. Warum? Weil das beweisen soll, dass nur das noch die dekadente Kirschgartenuntergangesgesellschaft retten kann? Leider ja, Erpulat hat es nicht mit den soziokulturellen Details sondern eher mit dem grellkomischen Kampf der Kulturen.
    Zu ihm gehören diverse Soli: Da ist z.B. die Transsexuelle Fatma Souad, eine Aktivistin der Kreuzberger Queer-Szene mit Migrationshintergrund in der Rolle der Charlotta Iwanowna. Oder Çetin Ýpekkaya, der Direktor des einstigen Tiyatrom einem türkischen Theater in Berlin-Kreuzberg. Seine Verfolgung in der Türkei des Militärputsches von 1980 wird kurz thematisiert. Kurz leuchtet mit dieser Figur des Firs die historische Tiefenschicht einer doppelten Heimatlosigkeit auf, die auszudeuten interessanter gewesen wäre als das Ansammeln von Andeutungen im unterhaltungssüchtigen Allerlei.
    Interessanteste Figur ist Lopachin, bei Tschechow der zu Geld gekommene Sohn eines Knechtes, und hier der aufgestiegene Vertreter eines neuen türkischen Bürgertums in einem müden Deutschland.
    "Lopachin, nicht Lopachin ... !"
    In der Verkörperung durch Taner Þahintürk, von Düsseldorf ins neue Gorki-Ensemble gewechselt, ist eine gebrochene Figur zu erkennen, die wenig Spaß am Erfolg zu haben scheint. Er reißt die Tapete ab, legt Schicht um Schicht Vergangenheit frei und räumt den Platz auf für eine skeptische Zukunft.
    Erleichterung am zweiten Abend: Das neue Gorki kann nicht nur Konzept, sondern auch Theater. Wenn auch zunächst burlesk komisch in der ersten Szene von Yael Ronens Inszenierung, wo sich die jungen Protagonisten aus Olga Grjasnowas Roman gegenseitig mit Vorurteilen traktieren, ihre ziemlich bunten interkulturellen Herkünfte betreffend. Dann aber bekommen die Freunde rings um die im aserbaidschanischen Baku geborene Mascha zunehmend Profil, berührend vor allem Dimitri Schaad in der Rolle des schwulen Moslems Cem, der zudem mit musikalischen Interludien das Stationendrama interpunktiert.
    "Leg dich bloß nicht an mit Mascha Kogan Sie macht dich kaputt..."
    Maschas verdrängte Kriegserinnerungen brechen wieder auf, nachdem ihr Freund tragisch an den Folgen einer Auseinadersetzung mit ihr stirbt. Die israelische Regisseurin, die in Deutschland mit ihren israelisch-palästinensischen Konflikt- und Aussöhnungsstück "Plonter" bekannt geworden ist, hat den Debütroman stark eingekürzt und in einer konzentrierten Inszenierung das Porträt einer neuen Generation gezeichnet, für die die alten kulturellen, ethnischen oder religiösen Identifikationen erledigt sind. Nur Anastasia Gubarevas hyperaktive Hauptfigur bleibt unverständlich, die tiefenpsychologische Verzahnung von Kriegstrauma und tragischem Scheitern im Frieden und der Liebe wenig verständlich.
    Die Bilanz des Neustarts am Gorki ist gemischt, aber eine wirklich entscheidende gute Nachricht bleibt davon unberührt: Deutschlands Theater hat endlich - viele Jahre nach der Fußballnationalmannschaft - ein Ensemble, das so bunt ist wie die Gesellschaft, aus dem es seine Geschichten schöpfen will.