Dienstag, 14. Mai 2024

Archiv


Gott und die Welt - Die Macht der Religionen

Wie frei ist, darf und sollte die Religionsausübung in einem Staat sein? Wo liegen in der Auslegung des eigenen Glaubens und der eigenen Überzeugung die Grenzen der Religionsfreiheit, wo endet das Grundrecht auf Meinungsäußerung und religiös motiviertes Handeln?

Von Christoph Möllers | 25.12.2012
    Autor Christoph Möllers ist Verfassungsrechtler an der Humboldt-Universität zu Berlin.

    I. Von der Distanz zum eigenen Glauben
    Die Freiheit der Religion gilt als altes Grundrecht. Schon die englischen Pilger auf ihrem Weg nach Amerika beriefen sich auf sie. Der deutsche Staatsrechtler Georg Jellinek plädierte in einem berühmten Buch im Jahre 1895 gar dafür, dass man sie als das historisch erste Grundrecht verstehen müsse. Dies bleibt eine umstrittene These; unbestritten dürfte dagegen sein, dass alles, was wir heute wie selbstverständlich zur Freiheit der Religion zählen, vergleichsweise neu und durchaus voraussetzungsreich ist: Dass sich ein Einzelner auf seine Religionsfreiheit berufen kann, und zwar gänzlich unabhängig davon, welcher Religion er angehört, wäre den meisten Europäern noch im 19. Jahrhundert sehr seltsam vorgekommen.

    Schließlich spielen sich die meisten Religionen in einer Gemeinschaft ab, über deren Vorstellungen kein Einzelner verfügen können soll. Rechte aus Religion waren zunächst Rechte einer religiösen Gemeinschaft darauf, in ihrer – auf den Innenraum beschränkten – Praxis vom Staat unbehelligt zu bleiben. Das Recht eines Einzelnen auf öffentliche religiöse Präsenz war davon nicht umfasst.

    Zudem: Was bedeutet überhaupt "Religion"? Viele der großen Theoretiker moderner Staatlichkeit und religiöser Toleranz von Thomas Hobbes, zu John Locke oder John-Jacques Rousseau hatten sehr handfeste Vorstellungen davon, welche Religionen Schutz verdienten und welche nicht. Auch wenn sie heute oft als theoretische Schutzheilige des neutralen Staates zitiert werden, gebrauchen sie keinen allgemeinen Begriff von Religion, der es gestattet hätte, eigenen Glauben und fremde Formen von Religion einfach aus gleicher Entfernung zu betrachten. Der Begriff der Religion selbst ist das Produkt einer späten Entwicklung, er erfordert eine Perspektive, die es dem, der an Christus oder an Allah glaubt, Distanzierung zum eigenen Glauben abverlangt wie auch die Bereitschaft, das, was in der eigenen Sicht Gläubige, Nichtgläubige und Falschgläubige, voneinander trennt, hintanzustellen.

    Aus dieser Sicht stellt sich die Frage: Warum eigentlich sollte eine Religionsgemeinschaft dazu bereit sein, für ein solches Recht, ein Recht auch auf den Irrglauben anderer Religionsgemeinschaften einzutreten? Man muss kein Zyniker sein, um eine Antwort darin zu sehen, dass Religionsgemeinschaften zu diesem Schritt erst bereit sind, wenn sie innerhalb ihrer politischen Gemeinschaft in der Minderheit sind, wenn sie vom Schutz der Religionsfreiheit etwas zu gewinnen haben. Weil aber in den allermeisten Staaten, selbst wenn sie religiöse Neutralität beanspruchen, eine bestimmte Religion Mehrheitsmilieus besetzt hat, war die Durchsetzung der Religionsfreiheit ein durchaus mühseliger Prozess. Selten standen die Religionsgemeinschaften selbst an seiner Spitze.

    II. Von den Grenzen der Religionsfreiheit
    In Deutschland blieben nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes Fälle, in denen die Religionsfreiheit einem religiös verfolgten Individuum Zuflucht bot, die Ausnahme. Zumeist diente die Freiheit der Religion aus Artikel 4 des Grundgesetzes als ein Rechtstitel, mit dessen Hilfe die christlichen Kirchen und die sie umgebenden politischen und sozialen Mehrheitsmilieus ihre Forderungen recht weitgehend durchsetzen konnten. Die Religionsfreiheit entwickelte sich von einem Recht, das einen Kern religiöser Praxis vor den Zumutungen der politischen Mehrheit bewahren sollte, zu einem Recht, das so gut wie alles schützte, was christliche Religionsgemeinschaften und die in ihr organisierten gesellschaftliche Kreise taten: Drohte die Sammelaktion der katholischen Landjugend den örtlichen Lumpensammler unter Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht zu ruinieren, so war diese Sammlung doch von der Religionsfreiheit geschützt – so das Bundesverfassungsgericht noch im Jahre 1968. Bestand ein Krankenhaus zwar in evangelischer Trägerschaft, doch nur in einem entfernten organisatorischen Zusammenhang zur Kirche und wurde es weitgehend vom Staat finanziert, so konnte und kann es sich trotzdem aus der Religionsfreiheit auf Ausnahmen vom Arbeitsrecht berufen – so das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1980.

    Man kann dieses expansive Verständnis der Religionsfreiheit, das seinesgleichen in keinem anderen liberalen Verfassungssystem der Welt finden dürfte, als Ausdruck eines Freiheitsverständnisses lesen, das sich vor allem für den Schutz von Strukturen interessiert, mit einem spirituellen Begriff von Religionsfreiheit aber wenig zu tun zu hat. Man wird auf der anderen Seite einräumen müssen, dass damit auch ein Weg beschritten wurde, der Religion - oder jedenfalls den christlichen Kirchen - eine öffentliche Rolle zu geben und sie aus einem privatistischen Selbstverständnis herauszuführen. Dass dieser Weg oft über den grundrechtlichen Schutz von Sonderrechten verläuft, die noch dazu in vielen Fällen – von der theologischen Fakultät an der öffentlichen Hochschule bis zum kirchlich getragenen, aber aus Steuergeldern finanzierten Kindergarten – eine Kooperation zwischen Kirchen und Staat bewahren, ist allerdings nicht zu leugnen.

    Freilich sieht sich ein so weites Verständnis der Religionsfreiheit bereits seit den 1970er-Jahren kritischen Einwänden ausgesetzt. Wird es immer die Richtigen schützen? Vielleicht schützt es gerade die, deren Motive nicht wirklich ernst zu nehmen sind: Kann sich jeder junge Mann einfach pauschal auf seinen Glauben berufen, um dem Wehrdienst verweigern zu dürfen – und sollte sich wirklich jede spirituelle Hippie-Gruppe unter dasselbe ausgebaute Dach an Schutz- und Anspruchsrechten flüchten wie die guten alten christlichen Religionsgemeinschaften? Langsam zeigte sich, wie ein weites Verständnis von Religionsfreiheit, damit konfrontiert wurde, dass sich Personen und Milieus auf sie beriefen, die Mehrheiten suspekt vorkamen: Gewissenstäter, Jugendsekten oder eben auch der in Deutschland allmählich öffentlich präsent werdende Islam.

    Die anfängliche Furcht, hier könnte sich jemand die Religionsfreiheit zunutze machen, der es gar nicht ernst meine, wich denn auch schnell der gegenteiligen Sorge: dass die Religionsfreiheit von Leuten in Anspruch genommen werde, die es mit der Religion gerade zu ernst meinen könnten. Wohlwollend könnte man formulieren, dass sich die Frage, was wir mit der Freiheit der Religion schützen können oder sollen, auf neue Entwicklungen einzustellen hatte. Ehrlicher wäre es wohl festzustellen, dass sich in dem Moment, in dem Minderheiten begannen, die Religionsfreiheit zu beanspruchen, das Verständnis dieses Rechts allgemein verengte. Auf einmal waren die Grenzen der Religionsfreiheit ein Thema – und das Bundesverfassungsgericht schaute lieber noch einmal genauer hin, was denn Religion genau bedeutete.

    III. Von der Großzügigkeit der Verfassung
    Anders als die Weimarer Reichsverfassung kennt das Grundgesetz ein Grundrecht auf Religionsfreiheit, das nicht durch allgemeine Gesetze beschränkt werden kann, sondern sich auch gegen diese wenden lässt. Für die Weimarer Republik schützte Religionsfreiheit die Freiräume, die das allgemeine Gesetz allen Bürgern in gleicher Weise gibt, sie verlieh aber keine Lizenz, sich über dieses hinwegzusetzen. Auch der Gläubige war hier zuallererst Bürger. Das Grundgesetz wich von dieser republikanischen Sicht ab.
    Damit schuf es ein Problem, dessen sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes bereits voll bewusst waren. Theodor Heuss stellte in den Beratungen zum Parlamentarischen Rat die Frage: "Darf eine Prozession verboten oder vertagt werden, wenn in einem Ortsteil Seuchengefahr ist?" Eine eindeutige Antwort findet sich in den Materialien nicht. Aber auf der einen Seite scheint doch allen Beteiligten klar gewesen zu sein, dass der Staat unter bestimmten Bedingungen eine solche Prozession verbieten können muss. Auf der anderen Seite war man sich aber auch einig, dass die Rechtfertigung für ein solches Verbot aus der Verfassung selbst kommen müsse und nicht einfach auf die demokratische Entscheidungsmacht des Gesetzgebers verweisen dürfe.

    Können eine Religionsgemeinschaft oder ein Individuum aus der Religionsfreiheit also Sonderrechte herleiten?

    Die verfassungssystematische Antwort auf diese Frage lautet in Deutschland eindeutig ja. Das Bundesverfassungsgericht hat einem Zeugen Jehovas, der aus religiöser Überzeugung seinem Kind keine Bluttransfusion zukommen lassen wollte, vor der Strafverfolgung geschützt. Es hat einer jüdischen Prozesspartei, die sich weigerte, in einem deutschen Gericht unter einem Kreuz zu verhandeln, ein Recht darauf zugesprochen, das Kreuz für die Dauer der Verhandlung abhängen zu lassen. Diese Großzügigkeit des Grundgesetzes überzeugt auch auf den zweiten Blick. Sie kann aber zu einem Problem werden, wenn aus dem Schutz der Freiheit Sonderregime für religiöse Organisationen entstehen, die Einfluss auf das Leben aller, auch nichtreligiöser Menschen nimmt.
    Welche seltsamen Blüten ein solches Verständnis der Religionsfreiheit treiben kann, zeigt ein Fall aus Berlin. Hier klagten die christlichen Kirchen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Ladenöffnung am Adventssonntag. Das Gericht gab ihnen recht und hob das Gesetz auf. Nun mag manches dafür sprechen, im Advent Ruhe vor dem Konsum zu bekommen, aber offen bleibt die Frage, was das mit der Religionsfreiheit zu tun hat. Bin ich als Gläubiger dadurch in meinen Rechten verletzt, dass es mich stört, wenn andere Menschen einkaufen gehen? Wohlgemerkt Menschen, die ein Recht aus der Religionsfreiheit haben, nicht in die Kirche gehen zu müssen. Hier bricht sich die Verzweiflung erfolgloser Volkskirchen Bahn, die nicht mehr wissen, welche Angebote sie für den christlichen Sonntag machen können. Diese Verzweiflung ist aber von der Religionsfreiheit nicht geschützt. Ein bloßes sich-gestört-Fühlen genügt nicht, um die Religionsfreiheit zu verletzen.

    IV. Von der Internationalisierung der Religionsfreiheit
    Könnten wir mit der Freiheit der Religion nicht einfach nur jedes Individuum schützen – und alle Probleme wären gelöst? Dass es nicht so einfach ist, hat mehrere Gründe: Neben der allgemeinen Einsicht, dass die Freiheit des Einen ihr Ende an der Freiheit des Anderen findet, hängt dies auch mit typischen Eigenschaften von Religionen zusammen: Religionen sind in aller Regel kollektive Unternehmen, bei denen nicht immer klar ist, wer welches Recht wahrnehmen will oder darf. Religionen haben zudem oft einen hoch normativen Anspruch. Sie definieren Regeln und zwar nicht nur für ihre eigenen Angehörigen, sondern auch für allen anderen.

    Wie schwierig die Bemessung der Religionsfreiheit ist, zeigte in diesem Jahr die Debatte über die Beschneidung von Neugeborenen im Judentum und im Islam. Ist sie von der Religionsfreiheit geschützt? Der Hamburger Strafrechtler Reinhard Merkel hat dies vehement verneint. So schreibt er:

    "Kein Freiheitsgrundrecht, welchen Gewichts immer, gestattet, unter welchen Bedingungen immer, das direkte Eindringen in den Körper eines Anderen, und wäre der Eingriff noch so bagatellhaft."

    Eine suggestive Bemerkung, die mit unserem Verständnis von Grundrechten allerdings wenig zu tun hat. Nicht nur darf das Recht auf körperliche Unversehrtheit beschränkt werden, es ist auch klar und unbestritten, dass Eltern das Recht haben, an ihrem Kind Eingriffe vornehmen zu lassen. Dass diese Befugnis nur das körperliche, nicht aber das in einer Religionsgemeinschaft so definierte spirituelle Wohl umfasst, ist eine biologistische Annahme, die aus dem Grundgesetz nicht folgt. In jedem Fall: Selbst wenn aus der Religionsfreiheit unmittelbar ein Recht auf Beschneidung der eigenen Kinder nicht folgte, würde aus ihr doch folgen, dass der Gesetzgeber dieses Recht einräumen kann. Diese juristische Unterscheidung erscheint freilich für einen Großteil der öffentlichen Debatte schon zu komplex.

    Reinhard Merkel fügt mit Blick auf die aktuelle Debatte in einem anderen Interview hinzu:

    "Aber man stelle sich nur einmal vor, die Beschneidung wäre kein Ritus der beiden großen Religionen, sondern die neue Idee einer kleinen christlichen Sekte, die nun ihr entsprechendes Recht einfordern wollte. Man würde ihr die Beschneidung auf der Stelle verbieten und kein Verfassungsgericht käme ihr dagegen zu Hilfe."

    Hier kann man Merkel zustimmen. Was aber folgt aus dieser richtigen Beobachtung? Die Auslegung der Religionsfreiheit ist kein Rechenexempel mit Kantischen Kategorien. Alles religiös gebotene Verhalten schützt sie in gleicher Weise, aber ob ein solches vorliegt, können wir uns nur in unserem eigenen historischen Erfahrungszusammenhang plausibel machen. Wenn eine Sekte plötzlich auf die Idee käme, sich die Praxis einer anderen Religion zunutze zu machen, wäre dies eben keine plausible Berufung auf die Freiheit der Religion.

    Weil es bei einem angemessenen Verständnis der Religionsfreiheit eben auf Kontexte ankommt, gestattet die Garantie der Religionsfreiheit eine große Vielfalt an Formen der Organisation von Religion: Staatskirchen wie in England oder Norwegen, laizistische Modelle wie in Frankreich oder Kooperationssysteme wie in Deutschland erkennen alle die Freiheit der Religion an.

    Inwieweit diese Vielfalt eine Zukunft hat, muss sich zeigen. Denn heute ist der Schutz von Grund- und Menschenrechten nicht mehr alleine eine Sache des Staates. Das Völkerrecht schützt die Freiheit der Religion ebenso wie die Europäische Menschenrechtskonvention. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat eine reiche Rechtsprechung zur Religionsfreiheit entwickelt, die auch für das deutsche Recht bedeutsam geworden ist. Ob die Internationalisierung der Religionsfreiheit stets zu einem weiteren Verhältnis von Religionsfreiheit führt, ist freilich eine offene Frage. Aus der Sicht eines internationalen Gerichts ist das Anliegen eines individuellen Klägers oft nah, der politische und historische Zusammenhang, aus dem eine staatliche Regelung stammt, dagegen fern. Dies ist bis zu einem gewissen Grad sinnvoll. Es kann aber auch dazu führen, dass der überkommene weite Schutz religiöser Praktiken, durch die andere sich in ihrer Freiheit verletzt führen, in die Schranken gewiesen wird. Mit anderen Worten: Es gehört den zu selten gewürdigten Ironien der Internationalisierung des Grundrechtsschutzes, dass er unter bestimmten Bedingungen eben auch ein Weniger an Religionsfreiheit hervorbringen kann. Für die deutsche Rechtsordnung, insbesondere für die Rechte der etablierten christlichen Kirchen ist dies eine wahrscheinliche Entwicklung.

    Zu den weiteren Beiträgen der "Wegmarken"-Reihe