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Gott und die Welt - Die Macht der Religionen

Im Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern vertritt der Sozialphilosoph Hans Joas die These, dass die Säkularisierung nie ein linearer, kontinuierlicher und einheitlicher Prozess gewesen ist. Vielmehr habe man es mit konfliktdurchsetzten und keineswegs unvermeidlichen Entwicklungen zu tun.

Von Hans Joas | 26.12.2012
    Hans Joas ist Soziologe und Sozialphilosoph und derzeit als Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies mit den Schwerpunkten "Sakralisierung und Säkularisierung.


    I. Die Anfänge der Säkularisierung

    Sollte er seine schwere Erkrankung überleben, gelobte der französische König Ludwig XV. im Jahr 1744, eine neue Kirche in Paris bauen und sie der heiligen Genoveva weihen zu lassen. Er genas tatsächlich, doch der Bau verzögerte sich. 30 Jahre später starb Ludwig, aber die Kirche war nicht vollendet. Als die französische Revolution weitere 15 Jahre später ausbrach, war der Bau noch immer nicht als Kirche geweiht.

    Im Jahre 1791 entschied die revolutionäre Nationalversammlung, das neoklassizistische Gebäude einem anderen Zweck zuzuführen. Es sollte nun dem Gedenken der großen Männer des Vaterlandes dienen und den Namen Panthéon tragen. Die sterblichen Überreste von Mirabeau, Voltaire und Rousseau wurden dorthin überführt, alle religiösen Symbole entfernt.

    Nachdem Napoleon die Revolution beendet hatte, wurde der Name des Gebäudes allerdings erneut verändert. Nun sollte es doch eine Kirche der heiligen Genoveva sein, weshalb die Inschrift aus den Tagen der Revolution weichen musste und an ihrer Stelle ein Kreuz errichtet wurde. Allerdings überdauerten die Maßnahmen zur Öffnung der Kirche das politische Regime; eröffnet wurde sie erst im Jahr 1822.

    Nur acht Jahre später, in der Juli-Revolution von 1830, spielte sich erneut eine Umwandlung ab. Es sollte nicht die letzte bleiben, da Napoleon III. mehr als 20 Jahre später wieder die kirchliche Nutzung verfügte. Also kehrte das Holzkreuz wieder an die Kuppel zurück. Sein Schicksal freilich war es, 1871 in den revolutionären Tagen der Kommune von den Aufständischen abgesägt zu werden. Nach der Niederschlagung des Aufstands wurde das Kreuz nun in Stein ausgeführt. 1885 schließlich, nach dem Tod Victor Hugos, kehrte man zur Nutzung des spektakulären Baus als eines Panthéons großer Männer zurück: Allerdings verzichtete man nun darauf, das Kreuz zu entfernen.

    Der britische Historiker Owen Chadwick, dem ich diese Geschichte verdanke, fasst sie in folgenden Worten zusammen: Dieses Gebäude "wurde zum Symbol einer entchristlichenden Revolution … Und da es ein Symbol wurde, stieß man es hin und her gemäß den Schaukelbewegungen der Parteipolitik, heilig und säkular, heilig und säkular, bis es schließlich, wie Westeuropa überhaupt zu großen Teilen, fast ganz säkularisiert war."

    Aus dieser kurzen Geschichte des Pantheons kann man zwei ganz verschiedene Schlüsse ziehen. Eine der beiden möglichen Erzählungen sieht die Geschichte der Säkularisierung als eine Bewegung, die im achtzehnten Jahrhundert mit Denkern wie Voltaire begann, sich auf immer mehr aufgeklärte Geister und Bevölkerungskreise ausdehnte und im Laufe der Zeit immer mächtiger wurde. So war ihr historischer Triumph allen Widerständen reaktionärer Kräfte zum Trotz letztlich unvermeidlich.

    Es ist aber auch eine ganz andere Erzählung dieser Geschichte möglich. Diese alternative Erzählung würde betonen, dass die Säkularisierung in Europa nie ein linearer, kontinuierlicher und einheitlicher Prozess war. Stattdessen würde man hervorheben, dass wir es mit einer hochgradig konfliktdurchsetzten, heterogenen und in keinem Sinn notwendigen oder unvermeidlichen Geschichte zu tun haben.

    In diesem Essay will ich diese zweite Deutung gegen die weitverbreitete erste verteidigen. Mein Ansatz dafür ist, dass ich die zeitliche Dimension der Säkularisierung ernster nehme, als dies in der Säkularisierungstheorie üblicherweise geschieht. Denn anders als sie, die Religionsverfall einfach auf Modernisierungsprozesse zurückführt, lautet meine Hauptthese, dass Säkularisierung, wo sie stattfand, in "Wellen" geschah. Wir verstehen die Ursachen der Säkularisierung also am besten, wenn wir die Wellen der Säkularisierung, aber auch der religiösen Revitalisierung genauer in den Blick nehmen.


    II: Die Säkularisierung und die Revolution

    Wir können den Verlauf der Säkularisierung und ihre vielen Varianten nicht erklären, wenn wir sie einfach als natürliche Folge der Entwicklung des Wissens und des Wirtschaftswachstums auffassen. Stattdessen müssen wir uns auf die institutionellen Arrangements zwischen Staat, Wirtschaft und Religionsgemeinschaften konzentrieren. Säkularisierung lässt sich erklären, wenn man auf die Haltung von Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften zu zentralen Fragen der Zeit blickt. Dazu gehören die sogenannte nationale Frage, die soziale Frage, die demokratische Frage oder auch die Frage nach den Rechten des Individuums. Säkularisierung, so lautet wie gesagt meine These, findet in Wellen statt.

    Was nun die erste Welle betrifft, ist es entscheidend, dass wir den Mythos von der anti-religiösen Französischen Revolution überwinden. In der Forschungsliteratur ist es heute unumstritten, dass die Frühphase der Revolution durchaus religiös geprägt war. Die Bande von Thron und Altar waren zerrissen, doch war ein neues Band etabliert: Das zwischen der Revolution und dem Altar.

    Was die Revolution anti-christlich werden ließ, war vor allem die wirtschaftliche und politische Rolle der Kirche. Zuerst wurden die Abgabepflichten gegenüber der Kirche und die grundherrlichen Rechte der Kirche abgeschafft. Diese Maßnahmen waren äußerst populär. Im nächsten Schritt ging es um die Bildung einer Staatskirche – d.h. um den Versuch, die katholische Kirche zu nationalisieren, um die politische Zuverlässigkeit des Klerus sicherzustellen. Dieses Vorhaben spaltete sowohl den Klerus als auch die Gläubigen. Der Klerus zerfiel in diejenigen, die den Loyalitätseid auf die Nation zu schwören bereit waren, und diejenigen, die dies als einen Bruch mit ihrem priesterlichen Gelübde empfanden. Gegen die Eidverweigerer richtete sich die zunehmende und oft tödliche Feindseligkeit der Revolutionäre. Vor allem in der Kriegszeit ab 1792 wurde den Verweigerern unterstellt, sich dem äußeren Feind Österreich gegenüber loyal zu verhalten.

    Im Verlauf des Konflikts gewannen die Antireligiösen die Oberhand. In Reaktion darauf verdammte der Papst die Revolution und die von ihr proklamierten Prinzipien, einschließlich der Menschenrechte: Sie seien blasphemisch, häretisch und schismatisch. Mein Punkt ist hier, dass dieser Prozess der Eskalation und Polarisierung keineswegs unvermeidbar war. Doch blieb die Geschichte Frankreichs davon dauerhaft geprägt. Einige Länder mit tiefen religiösen und kulturellen Affinitäten zu Frankreich – wie Spanien, Portugal und Teile Italiens – wurden in dieselbe Polarisierung von Kirche und Staat hineingezogen. Die Auswirkungen spürt man bis heute, vor allem in Spanien.

    Vergleicht man die französische Geschichte des 19. Jahrhunderts mit der preußischen, wird klar: Auch dort war das enge Bündnis von politischer Macht mit einem religiösen Monopolisten entscheidend. Bei der gescheiterten Revolution von 1848 in Preußen lässt sich eine in mancher Hinsicht vergleichbare Geschichte der Entfremdung der liberalen und demokratischen Revolutionäre von der – in diesem Falle - protestantischen Staatskirche feststellen. Es handelte sich um eine Kirche, in der der Territorialherr gleichzeitig oberster Bischof war und die mit immensen finanziellen und kulturellen Privilegien ausgestattet war.


    III. Die Säkularisierung und die soziale Frage

    Im Jahr 1848 spielte freilich schon die rapide Urbanisierung und Industrialisierung eine eigene größere Rolle für den religiösen Wandel. Allerdings war die Urbanisierung nicht eine einfache Ursache der Säkularisierung, sondern nur eine neue Herausforderung für die Kirchen. Denn sie mussten nun auf diese unvorhergesehene und unbeherrschbar wirkende Entwicklung reagieren.

    Untersuchungen zeigen, dass die zunehmende Säkularisierung in den Städten einen banalen Grund hatte: Wenn Menschen in großer Zahl in die wachsenden Städte zogen, kamen die Kirchengebäude nicht mit ihnen mit. Und es dauerte, bis die Kirchen begriffen, wie wichtig eine Infrastruktur für den religiösen Alltag ist. Die Affinität protestantischer Pastoren zum wachsenden Nationalismus in der Zeit nach der Reichsgründung 1871 entfremdete beträchtliche Teile der männlichen Arbeiterschaft von der protestantischen Kirche.

    Dass die Pastoren den Kolonialismus befürworteten und der sozialdemokratischen Bewegung feindselig gegenüberstanden, stieß die Arbeiter noch mehr ab. Denn viele von ihnen entwickelten einen glühenden Glauben an den Sozialismus in Sinne einer säkularen politischen Utopie. Interessanterweise blieben die meisten protestantischen Frauen den religiösen Traditionen stärker verbunden. Sie hinderten oft ihre Ehemänner, Liebhaber und Söhne daran, sich einer der sporadisch aufkommenden Kirchenaustrittsbewegungen anzuschließen oder sich völlig von den Kirchen abzuwenden. Das ist ein Grund, weshalb sich das Ausmaß der tatsächlich eingetretenen Säkularisierung nur schwer bestimmen lässt.

    Die Kirchen schürten die Angst vor der religionsfeindlichen Sozialdemokratie, um sich dem Staat gegenüber als unverzichtbar darzustellen. Diese wenigen und auf Preußen konzentrierten Bemerkungen können natürlich kein adäquates Bild der zweiten Welle liefern. Meine Absicht ist lediglich, auf den Wandel der Religion im sozialen Leben hinzuweisen. Zugleich möchte ich zeigen, inwiefern diese Ereignisse auch Folgen der ersten Welle waren. Der Blick auf alternative Entwicklungen in anderen Regionen kann vieles verdeutlichen. Dass es etwa der katholischen Kirche im Rheinland und im Ruhrgebiet gelingen konnte, sich die Loyalität der Arbeiterschaft zu sichern, zeigt vor allem: Es handelt sich nicht um eine Ausnahme von der Regel der Säkularisierung, sondern um eine überlegene Leistung institutioneller Anpassung an sich wandelnde Bedingungen.


    IV. Die Säkularisierung und die 68er Bewegung

    Die dritte Welle der späten 1960er und frühen 1970er Jahre war ein (transnationales) europäisches Phänomen und reichte sogar über Europa hinaus. Am Anfang hatten die Studentenbewegungen der Zeit durchaus oft christliche Ursprünge. Der charismatische Führer der westdeutschen Studentenbewegung, Rudi Dutschke, entstammte etwa einem tief protestantischen ostdeutschen Milieu. Vor allem die evangelischen Studentengemeinden waren für die Infrastruktur der frühen Studentenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland zentral. Nicht selten war politisches Engagement religiös motiviert. Allerdings wurden diese religiösen Motive häufig bald verworfen und durch säkulare ersetzt. Zumindest allen europäischen Bewegungen der Zeit ist gemein, dass sie eine intensive säkularisierende Wirkung hatten.

    Wesentlich mehr als die beiden vorangegangenen Wellen führte die dritte Welle zu einer Normalisierung der säkularen Option auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Damit einher ging die schleichende Exotisierung der Gläubigen. Warum? Zu den bisher genannten kommt hier ein zusätzlicher Aspekt hinzu. Diese sozialen Bewegungen stellen nicht nur Versuche da, alte Restriktionen zu lockern oder loszuwerden. Vielmehr können wir sie als von neuen Werten, neuen Idealen, neuen Sakralisierungen geleitet betrachten. Als diese Bewegungen in den 1960er Jahren aufkamen, betrachteten führende Soziologen sie als Vorboten einer neuen Art von Religiosität oder vielleicht sogar einer neuen Religion, als die Vertreter einer "expressiven Revolution" in und nicht gegen die Religion. Neu war die Orientierung auf den im 18. Jahrhundert entstandenen Wert expressiver Selbstverwirklichung.

    Bald wurde die Selbstverwirklichung mit einer neuen, anti-puritanischen Sakralisierung des Körpers verknüpft. Sexuelle Erfahrungen wurden als eine intensive Form der religiösen Erfahrung gedeutet. Das stellte religiöse Traditionen in Frage. Die neuen Werte konnten sehr unterschiedlich ausgedrückt werden: religiös, a-religiös, antireligiös. Zu den religiösen Artikulationsweisen gehörte ein neues Interesse an asiatischen religiösen Traditionen, oft mit der Betonung des Erotischen. Manchmal wurde die Rückkehr zum Heidentum und die Befreiung des Körpers nach zwei Jahrtausenden religiöser Herrschaft gefordert. Die angemessene Reaktion auf diesen Wertewandel wurde damit zur Lebensfrage der Kirchen. Sie konnten versuchen, sich in ihren Lehren, Praktiken und Organisationsformen an die "expressiven Werte" anzupassen. Oder sie konnten umgekehrt ein dagegen gerichtetes Selbstverständnis konservieren oder gar verstärken.

    Will man die Säkularisierungswirkungen der 68er verstehen, lohnt ein Vergleich zwischen Europa und den USA. Gegenwärtig konkurrieren hier zwei sehr unterschiedliche Interpretationen miteinander. Auf der einen Seite werden die amerikanischen Bewegungen der 1960er Jahre hinsichtlich der Rolle religiöser Orientierungen als den europäischen sehr ähnlich aufgefasst. Die ablehnende Reaktion konservativer religiöser Milieus in den USA erklärt dann, weshalb die USA auch in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts nicht viel säkularer wurden. Auf der anderen Seite lässt sich die Ansicht vertreten, dass schon die Bewegungen selbst sich wesentlich unterschieden: in Europa waren sie viel stärker politikzentriert und am Erbe der liberalen und sozialistischen Religionsfeindschaft ausgerichtet. In Amerika hingegen waren sie viel sensibler hinsichtlich der Religion oder sogar, wie die Bürgerrechtsbewegung, religiös motiviert.

    Welche Interpretation auch richtig sein mag, die Folgen der dritten Welle bestimmen bis heute unsere Gegenwart. Interessant ist die enorme Verstärkung des öffentlichen Interesses an Religion in vielen westlichen Ländern im letzten Jahrzehnt. Sie könnte zu einer Neubewertung der dritten Welle der Säkularisierung beitragen. Für die Nicht-Gläubigen stellt dies eine Herausforderung dar, weil sie einräumen müssen, dass auch diese dritte Welle nicht unvermeidlich war. Für die Gläubigen liegt die Herausforderung darin, dass sie die eigene Verantwortung für diesen Säkularisierungsschub nicht abweisen können.

    Die Geschichte der Säkularisierung sollte nicht so geschrieben werden, als seien eines Tages atheistische Ideologen über unschuldige religiöse Gemeinschaften hereingebrochen. Führende katholische und protestantische Denker wie Max Scheler und Dietrich Bonhoeffer erkannten bereits, dass die Geschichte der Säkularisierung immer auch eine Geschichte der Schuld und der verweigerten Verantwortung von Christen ist. Selbstverständlich möchte ich nicht die Christen für allen Horror und für ihre eigene Verfolgung in totalitären Regimen verantwortlich machen. Aber es steht den Christen gut an, darüber nachzudenken, wie ihre eigene Geschichte verwickelt ist in die verschiedenen Wellen der Säkularisierung.

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