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Gottfried Keller oder: Die Welt im Regentropfen

Der Trost, das Glück und die Friedfertigkeit, die uns in einer bestimmten Literatur, Architektur, Malerei und Musik entgegenkommen, bilden das Thema der Reihe "Kunstbürger-Bürgerkunst".

Von Rüdiger Görner | 28.02.2010
    Darin geht es um Porträts von Künstlern wie dem Komponisten Johannes Brahms, dem Maler Max Liebermann oder dem Architekten Otto Wagner, die das Alte mit dem Neuen zu versöhnen suchten, ohne mit der Vergangenheit schockartig zu brechen.

    In der ersten Folge hören Sie nun einen Essay über "Gottfried Keller oder: Die Welt im Regentropfen." Autor ist der in London lehrende Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner.

    Gottfried Keller oder: Die Welt im Regentropfen
    Von Rüdiger Görner

    Er liebte die Farbe Grün über alles, wie sein Protagonist, Heinrich Lee, dessen Kinderkleidung aus der grünen Uniform seines Vaters geschneidert wurde, und der deshalb 'der grüne Heinrich' gerufen wurde. Wie klein er war. Seine Beleibtheit sei keine übermäßige, aber sie sei ihm wegen seiner kleinen Statur beschwerlich gefallen: Denn er maß vom Scheitel bis zur Sohle nicht über 1,40 Meter.

    Eine weitere von Gottfried Keller umworbene Frau sagte über ihn:

    "Er hat sehr kleine, kurze Beine, schade! Denn sein Kopf wäre nicht übel, besonders zeichnet sich die außerordentlich hohe Stirn aus ... Keller trug ein gewaltiges Haupt auf breiten Schultern; das Fußgestell dieser imposanten Büste dagegen war schwach und im Verhältnis dazu klein und unansehnlich."

    Er hatte eine Schwäche für das Kleine, ja, Embryonische. Am 1. Mai 1848 geht er auf dem Zürcher Jahrmarkt in ein Wachsfigurenkabinett, das auch eine anatomische Sammlung aufwies in einer langen Reihe von Gläsern, welche vom kleinsten Embryo bis zum fertigen Fötus die Gestalten des angehenden Menschen enthielten. Sie faszinierten ihn, diese "ungeborenen Menschlein" und, wie es in einer Erzählung heißt, "verhutzelten Embryönchen."

    Im Kunsthaus Zürich hängt Gottfried Keller in seiner ganzen großen Kleinheit neben der sogenannten "weißen Lydia", der grüne gleichsam neben der weißen. Die beiden Porträts von Karl Stauffer-Bern, geschaffen anno 1886. In einem der Gewächshäuser im Park des Belvoirguts in Zürich, aus dem die schöne Lydia stammte, geborene Escher, die Tochter des großen Alfred Escher, der noch größer vor dem Zürcher Hauptbahnhof in Bronze gegossen alles überragt und gebieterisch auf die Bahnhofsstraße blickt als gehörte sie ihm.

    Gottfried Keller und Alfred Escher, ein seltsames Freundespaar waren sie; sie hätten unterschiedlicher nicht sein können. Beide 1819 in Zürich geboren, wobei Keller ärmlich begann; die Eltern stammten vom Lande, was es dem jungen Gottfried bis zu seinem zwölften Lebensjahr verunmöglichte, eine höhere städtische Ausbildung zu genießen. Als 15-Jähriger wurde er relegiert, sodass ihm ein ordentlicher Schulabschluss fehlte. Derweilen hatte Escher Privatunterricht genossen und legte dann am kantonalen Obergymnasium seine Matura ab, studierte an der neu gegründeten Universität Zürich Jura, später auch in Bonn und Berlin, und wurde 1844 Privatdozent in Zürich und gleichzeitig Kantonsrat, Gründer der Schweizerischen Creditanstalt, des Polytechnikums in Zürich und der Schweizerischen Rentenanstalt, kurz: Er wurde zu dem Wirtschaftsliberalen der Schweiz.

    Escher vermittelte Keller, der sich in der Münchner Künstlerbohème versuchte, was im Grünen Heinrich seinen Niederschlag finden sollte, Stipendien für Aufenthalte in Heidelberg und Berlin in den Jahren 1848 und 1855. Auch die Zürcher Stadtschreiberstelle hätte er ohne Eschers Fürsprache 1861 wohl kaum zugesprochen bekommen. Als Stadtschreiber bewahrte er sich jedoch auch seinen Sinn fürs Zeichnen. Immer strichelte, schraffierte, karikierte er, protokollierte Amtssitzungen und zeichnete die Amtsköpfe auf den Rand des Protokolls, erklärte sie zu Randfiguren und den Text, immer den Text, zum Mittelpunkt. Man stelle sich im Vergleich dazu die karikaturfreien amtlichen Schriften Goethes und Kafkas vor.


    Was bleibt vom Einzelnen, scheinen diese Amtsprotokolle zu fragen? Ein karikaturreifes Profil, eine Silhouette, die Pfeifen der Zürcher Räte oder ein markiger Satz über Zünfte und Straßenbau, Befestigung des Limmat-Ufers oder der Entwurf einer neuen Brücke, den man dann wieder verwirft. Dabei erfolgte dann Kellers Aufstieg zum 'Kunstbürger', könnte man sagen. Es gab ihn zuletzt doch für ihn, den späten Ruhm, die Anerkennung, Geld. Keller konnte es sich 1876 leisten, seine Schreiberstelle aufzugeben und nach Zürich-Enge zu ziehen, ins Haus Bürgli, womit er zum Nachbarn der Eschers wurde.

    Kommen wir zurück auf die beiden erwähnten Porträts in der Zürcher Kunsthalle, Lydia Welti-Escher und Gottfried Keller, die einem Doppelporträt der Zeit gleichen, gemalt von ein und demselben skandalträchtigen Künstler. So lebenslustig blickt die sonst betont züchtig gekleidete Lydia in die Welt; sinnierend dagegen, lebensgesättigt, vielleicht auch resignierend und so gar nicht mehr grün wirkt Gottfried Keller, wie einer, der am Rande seiner Zeit sitzt, wenn man so will, am Anfang des Fin de Siècle, am Ausgang des Endes.

    Als bildender Künstler und Schriftsteller schwankte er zwischen bürgerlicher Kunst und ihrer ironischen Infragestellung. So wurde der Bürger kompromittiert in seinem ganzen Möchte-gern-Gehabe, seiner Hypokrisie und Tendenz zu dem, was man "das Verschweizern" nennen könnte. Was aber machte im Werk des Gottfried Keller jene Spannung zwischen Bürger und Künstler aus? Beginnen wir mit einem Text Kellers, der heute kaum noch Beachtung findet, der Mythenstein-Essay. Als die Urkantone der Schweiz Friedrich Schiller einen "Mythenstein" zum Gedächtnis des "Tell"-Dichters weihten, man schrieb das Jahr 1859, nahm Gottfried Keller dies zum Anlass, sich weitläufig über den Nutzen und Nachteil des Mythischen für das kollektive Bewusstsein zu verbreiten.

    Im Mythenstein-Essay hat Keller nicht nur Schiller vor Augen als Stifter kollektiver Kultureuphorie und Kulthörigkeit. Sein eigentliches Ziel heißt Richard Wagner, dessen Entwurf einer neuen Mythologie aus dem Geist der Vorzeit Keller entschieden als "archaistisches Getändel" abtut, das nicht geeignet sei, "das Bewusstsein der Gegenwart oder gar der Zukunft zu umkleiden"; vielmehr gehöre das nur der Vergangenheit an. Auf den letzten Seiten seines Essays nun entwirft Keller eine ästhetische Sozialutopie, die jedoch bezeichnenderweise Elemente dessen enthält, die man später mit Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks in Verbindung bringen wird. Keller begreift als das eigentlich Moderne in seiner Zeit die Massenhaftigkeit in der Kunstausübung, überhaupt den Einbruch der großen Zahl in die bisherige Intimität des Kunstlebens. Doch geht er von einem anderen Bild aus. Der baldige erste Stadtschreiber der Zürcher Regierung steht auf einem der Übungsplätze größerer "Schulanstalten" und beobachtet, wie ein halbes Tausend Knaben beim Freiturnen symmetrisch oder "durcheinandergehend" aufgestellt werden, wobei...

    "alle zugleich sich beugen und aufrichten, den Oberkörper drehen, die Arme heben und schwenken auf gegebene Zeichen, und die Ahnung einer künftigen allgemeinen Kultur körperlich-rhythmischer Bewegung ist bei solchem Anblicke durchaus nicht abzuweisen, um so weniger, als auch in der Soldatenwelt, also auf der breitesten Grundlage, dergleichen eingeführt werden soll."

    Was Keller hier sieht, präfiguriert das Kaderwesen, Olympia 1936, den Massenaufmarsch im Zeitalter der Ideologien.
    Von diesem Großaufgebot aus ist es für Keller nur ein kleiner Sprung zu den Chorfesten seiner Zeit. Was Keller hier beschreibt, hat in der deutschsprachigen Prosa seiner Zeit kein Gegenstück.

    "Das große Festlied erhebt sich eben zum Ausdruck der reinsten Leidenschaft und Begeisterung. Sie reißt den Körper der auswendig singenden Tausenden von Männern, Jünglingen und Jungfrauen mit, eine leise rhythmische Bewegung wallt wie mit Zauberschlag über die Menge, es hebt sich vier -bis fünftausendfach die rechte Hand in sanfter Wendung, es wiegt sich das Haupt, bis ein höherer Sturm aufrauscht und beim Jubilieren der Geigen, dem Schmettern der Hörner, dem Schallen der Posaunen, unter Paukenwirbeln und vor allem mit dem höchsten Ausdrucke des eigenen Gesanges die Masse nicht in Tanzen und Springen, wohl aber in eine gehaltene maßvolle Bewegung übergeht."

    Keller beschreibt hier ja in der Tat nichts anderes als die künstlerisch geordnete levée en masse in der Musik, ein Volkskunstwerk, Seid umschlungen Tausende!, das Massenaufgebot in der Musik, wie es Hector Berlioz fordert und Gustav Mahler in der "Symphonie der Tausend" umsetzen sollte. Das ist Aida und Pilgerchor und die Mobilisierung des Bildungsbürgers qua Rhythmus vor überdimensionaler Liedertafel.

    Keller spürt das Krypto-Militaristische in diesen Großveranstaltungen und damit auch das Anti-Emanzipatorische. Was hier in der Luft liegt, ist die Vergewaltigung des Individuums durch die Massenveranstaltung, das Mega-Popkonzert anno 1860.

    Im Essay macht er, so scheint es, bei der ganzen Sache als Beobachter mit und entdeckt in sich eine neue Kühnheit; denn in seiner Fantasie baut er für diese Massenveranstaltung ein "Luftschloss", wie er sich ausdrückt, ein "bleibendes monumentales Gebäude", um diesem außerordentlichen "akustischen Bedürfnis" gerecht zu werden, etwas künftiges Bayreuther Festspielhaus, etwas Walhalla, etwas Festwiese, Aktionsraum und Museum, Open Air Festival und Weihestätte für Gemeinschaftskunst. Keller hat klare Vorstellungen:

    "Da die innere Einrichtung jedes Mal nach Bedürfnis neu aus Holz zu beschaffen wäre, so handelte es sich bloß um Herstellung eines hohlen länglichen Baues, dessen ganzer Aufwand auf die vier Außenseiten sich bezöge und auf entsprechende Umgebungen, welche mit Terrassen und Baumgängen sowohl zu festlichen Aufzügen als zu fröhlicher Bewegung sich eignen und mit dem Hause zusammen ein Kunstwerk bilden müssten."

    Einmal zum architektonisch-phantasievollen Höhenflug ansetzend, erkennt Keller selbst erst das ganze Potenzial seines Entwurfs - eine Art Mega-Bayreuth avant la lettre: Wenn die Musik nicht in diesen Riesenräumen herrscht, dann sollen Ausstellungen und Versammlungen dort stattfinden. Keller sucht dieses Projekt zu demokratisieren: Alle sollen daran teilhaben - "verschiedene Städte in gastfreundlichem Wettereifer" beim Bauen dieses ästhetischen "Bundesortes", wie er sagt, und die Bürger bei den Vorbereitungen, beim Ausführen der Kunstspiele.

    Doch weist Keller solchen Festen auch eine pädagogische Aufgabe zu. Alle drei Jahre sollen sie gefeiert werden, wobei die Vorbereitung - er sagt, sie müsse "ruhig" vor sich gehen - sowie der Drei-Jahres-Rhythmus selbst dazu beitragen sollen, die "gehaltlose Geräusch-und Vergnügungssucht" zu verdrängen und zu "gleichmäßiger Bildung und Veredlung des Menschen aus dem gemeinschaftlichen Wirken ungleicher Stände" anzuregen, wie er es formuliert. Eines Tages aber werde, so Keller, die Menge "gesangsmüde" und "aristokratische" Solisten würden sich aus der liedererschöpften Masse lösen. Eine neue Form der Tragödie könne dann entstehen; doch auch ihre Zeit ginge vorüber und übrig bliebe das Kleinkarierte, das Provinzielle, das bloße "tägliche Vergnügen", der unausweichliche Kultur-und Niveauverfall.
    Schaut man auf die Absurditäten der Gleichzeitigkeit, dann fällt auf, dass in dem Jahr, als Keller seinen Versuch schrieb, Jacob Burckhardt die Kultur der Renaissance veröffentlichte und Krupp erstmals Geschützrohre aus Gussstahl herstellte. Doch solch synoptische Wissen führt zu nichts, allenfalls zu Verblüffung. Denn wer will schon wissen, dass Wagners Parsifal und die Entdeckung der Tuberkelbazillen auf ein und dasselbe Jahr fiel.

    So bizarr, so widersinnig dies alles auch sein mag, etwas davon findet sich bei Keller selbst. Walter Benjamin spricht vom "kleinen Bodensatz des Nonsens" in dessen Prosa. Dieses Wort findet sich übrigens nicht in dessen wegweisendem Keller-Aufsatz, sondern im Vorspann zu einem Brief Kellers an Theodor Storm vom Februar 1879, den Benjamin in seine Sammlung Deutsche Menschen (1936) aufgenommen und anonym herausgegeben hat, Schriftstücke von Briefstellern, die etwas Widerständiges an sich hatten und nie so ganz mit ihrer Zeit im Reinen waren. In diesem kleinen Vorspann schreibt Benjamin über Keller:

    "Er war ein großer Briefschreiber. Es lag wohl in seiner schreibenden Hand ein Mitteilungsbedürfnis, das der Mund nicht kannte. Im übrigen sind seine Briefe nicht nur räumlich in einer Grenzmark des spachlichen Bereichs gelegen. Sie stellen in vielen ihrer besten Exemplare ein Mittleres zwischen Brief und Erzählung dar, Gegenstücke der Mischform zwischen Brief und Feuilleton [...]"

    Kellers feuilletonistisch-essayistische Betrachtung des "Mythenstein" mit seiner visionären Massenschau taucht später bei ihm in einem ganz anderen Zusammenhang wieder auf, nämlich beim Abfassen seiner letzten Novelle aus dem berühmten Seldwyla-Zyklus, Das verlorene Lachen.

    Dort führt ein singender Fähnrich, Jukundus Meyenthal, den Seldwyler Männerchor zu einem Chorfest mit Wettgesang, der sich "in der mächtigen weiten Halle vor Tausenden von Hörern vor fast soviel Tausend Sängern" zuträgt. Nicht umsonst spricht der Erzähler von einer regelrechten "Schlachtordnung" der Chöre, von einem "Menschenmeer", aus dem Jukundus für die Dauer seiner Kunst hervortreten darf als ein Individuum, dessen Unabhängigkeit im Laufe der Geschichte mehr und mehr zunichte wird.

    Bezeichnend ist, dass dieses Chorbild seine parodistische Entsprechung findet beim Aufbau der neuen Schwanauer Kirchengemeinde, die nach den Prinzipien einer Reformtheorie erfolgen soll, die das Geistliche wieder versinnlicht und verbildlicht. Der Chor übt "alte katholische Messstücke ein", die niemand versteht, die aber als unverzichtbar für die Wiederherstellung des "Weltmysteriums" gelten. Begleitet wird dieser Chor nicht von einer Orgel, für die noch kein Geld da ist, sondern von einem "trompetentönigen Quiekkasten", womit die Karikatur des großen Musikfests vollkommen ist. Das liturgisch Neue parodiert sich selbst.

    Keller wollte mit dieser Novelle ein "modernes ernstes Kulturbild" entwerfen; sie geriet ihm zu einer Vorstudie des deutlich pessimistischeren Martin Salander. Die Novelle weist freilich auch ein Motiv auf, mit dem Keller die ganze Ambiguität des Modernen, die Zweideutigkeit als Prinzip alles vermeintlich 'Neuen' zeigen kann. Damit ist Jukundus Meyenthals zweiter Versuch gemeint, Individualität zu zeigen, nun nicht mehr als ein aus dem Chor ausbrechender Sänger, sondern als Erhalter der seldwylischen "wohl tausendjährigen Wolfhartsgeereneiche". Meyenthal hat nämlich sein Glück zeitweise im Holzhandel gesucht, diesen zunächst auch erfolgreich betrieben, wobei ihn aber Skrupel angesichts der, so der Erzähler, Baumschlächterei überkamen. Sein ökologisches Bewusstsein führt ihn aber geradewegs in den Ruin.

    Die moderne Ökonomie verlangt Rationalisierung und, in diesem Fall, das Gehen über Baumleichen. Meyenthal aber versucht, Stadt und Staat davon zu überzeugen, diese Eiche als Naturdenkmal zu erhalten, als "Zeuge der Vergangenheit" und "Landesschmuck". Doch für die Ökonomie ist Wald nur Holz und damit Produktionsmittel. Meyenthal, der erste Grüne unter den Seldwylern, kauft daraufhin die Eiche selber und scheidet aus dem Holzgeschäft aus. Er baut stattdessen eine holzschützende Alternativökonomie auf, ersetzt die hölzernen Wasserleitungen durch "Ton- und Eisenrohre" und geht sogar so weit, Mostfässer aus Zement zu produzieren und Holzbalken im Baugewerbe durch ausgediente Eisenbahnschienen zu ersetzen. Als er mit dieser Substitutionsökonomie neuerlich Schiffbruch erleidet, bleibt ihm nur der Verkauf seiner Eiche, um überhaupt überleben zu können.

    Das Fällen der Eiche wird wiederum zu einem Massenspectaculum: Der einstige Chorführer Meyenthal, der vor Tausenden geglänzt hatte, muss nun hilflos dabei zusehen, wie einmal mehr "Tausende von Menschen" den Fall der Eiche zum Massenereignis, zur Volksbelustigung erklären. Der Fortschritt produziert seine eigene Perversion. Und in Parallelaktion dazu vollzieht sich die scheinbare Modernisierung der Kirche, die nach allem, was der Leser erfährt, einer Verkünstlichung des Glaubens gleichkommt. Das reine Wort hat abgedankt; es ist nicht mehr massenwirksam. Der Erzähler erklärt:

    "Es musste wieder ein gedeckter Altartisch und ein Altarbild her, damit der unmerkliche Kreislauf des Bilderdienstes wieder beginnen könne mit dem 'ästhetischen Reizmittel', um unfehlbar dereinst bei dem wundertätigen, blut-oder tränenschwitzenden Figurenwerk, ja bei dem Götzenbild schlechtweg zu endigen, um künftige Reformen nicht ohne Gegenstand zu lassen."

    Die Menschen, so die These, verlangen auch in der Kirche nach einem Panoptikum, aber der künftige Bildersturm werde dadurch bereits vorprogrammiert. Übermalte Gipsfiguren statt Glaubenswahrheit. Keller gebraucht das sprechende schweizerische Wort "erwahren", um das Sichbewahrheiten des Glaubens jenseits der Bilder zu bezeichnen. Meyenthals ihm durch seinen Misserfolg entfremdete Frau, deren bloßer Name mystisch anziehende Ausstrahlung verheißt, Justine Glor von Schwanau, entpuppt sich als religiöse Eifererin im Sinne der Reformtheologie, die eigentlich eine Bilderrestaurationsliturgie ist. Keller zeigt, dass nur eine solche Theologie es gestattet, Erotik zu sublimieren und damit zu entstellen, dem eigentlichen Leben zu entfernen.

    In dieser Novelle Das verlorene Lachen verwirft Jukundus Meyenthal mit einer Intellektualität, die man ihm nicht zugetraut hätte, die so genannte Reformtheologie des Schwanauer Geistlichen mit dem Hinweis, dass diese ebenso wenig wissenschaftlich sei wie es einst die Alchimie, Astrologie oder eben die Kabbalistik gewesen war. Vergessen wir nicht, es war dieses Gespräch zwischen Meyenthal und dem Pfarrer, das letzteren um seinen Glauben bringen und zur Aufgabe seines seelsorgerischen Berufes veranlassen sollte. Denn auch das ist ja das Besondere an der Kellerschen Figurengestaltung: Sie zeigt, was sich an Unvermutetem, an Potential - im Guten wie Problematischen, im Menschen verbirgt und verweist auf die Anstrengung, derer es bedarf, um sich im Zaume zu halten, sich nicht zu verlieren: Wer in Kellers Dichtungen nach den Sternen greift, vergreift sich am Schicksal.

    Die Moderne, die Modernität des Sagens, das Moderne an Perspektivität und Thematik, sie trumpfen in Kellers Prosa nicht auf, sondern schleichen sich ein. Die entschieden 'moderne' Zeitproblematik etwa taucht mitten in der Novelle Das verlorene Lachen folgendermaßen in Erscheinung:

    "Die Uhren liefen ab und wurden kummervoll aufgezogen, nachdem sie tagelang stillgestanden. Die Zeit musste dann zusammengesucht werden, wie man in der Finsternis ein Lichtlein am andern anzündet, um sehen zu können."

    Mehr an so genannter Zeittheorie von Keller an dieser Stelle zu erwarten, hieße ihn als genuinen Erzähler verkennen. Stattdessen lenkt er nach der dinglich metaphorisierten auf die kreatürlich versinnbildlichte Zeit um und gewährleistet dadurch erzählerische Anschaulichkeit:

    "Einige junge Kätzchen, welche bis zum Tage des Unglücks der Zeitvertreib und das Spiel von alt und jung gewesen waren, wurden plötzlich nicht mehr gesehen und zogen sich mit ihren kleinen Sprüngen schüchtern in einen Winkel zurück, und als nach geraumer Zeit einige Seelenruhe wieder in das Haus gekommen war, wunderten sich alle, dass die Katzen unter ihren Augen auf einmal groß geworden seien."

    Wann immer bei Keller das Eindringen des vermeintlich Modernen ins Leben vorkommt, mangelt es nie an einem ironischen Unterton. Mustergültig geschieht das auf den ersten Seiten der Seldwyla-Novelle Die missbrauchten Liebesbriefe, die dem Leser Viktor Störteler vorstellen, Spediteur, Händler und Wörterkontorist dazu, der sich für etwas Besonderes hält, erfolglos "Essais" schreibt, aber erfolgreich unter anspruchsvoll klingenden Pseudonymen, darunter 'Kurt vom Walde', Novellen für diverse "Sonntagsblättchen" fabriziert. Sein Bekenntnis zur Moderne zeigt sich nicht nur in Störtelers Neigung zum Essayismus, zum Schreiben über Alles und Nichts, sondern auch in dem, was man die Reflexion über das Material nennt. Darüber lässt Kellers Erzähler ihn selbst Auskunft geben:

    Er schrieb auch über die Bezeichnung 'Schriftsteller' und erfand dafür Ersatznamen wie: "Schriftner, Tinterich, Schriftmann, Buchner, Federkünstler, Buchmeister." Das Medium des Schreibens gewinnt hier ein Eigenleben wie schließlich auch die kunstvollen Liebesbriefe, die er von seiner Frau fordert. Sie verselbstständigen sich, werden von fremder Hand geschrieben, um schließlich zu ihrer eigenen Geschichte zu werden. Keller zeigt an solchen Stellen seines Werkes, wie das Material die Intention überbietet, die Form den Gehalt in den Schatten stellt, wie aus allem ein Spiel im Spiel werden kann, eine Selbststeigerung ins Unverständliche.

    Keller karikiert den Einbruch der Reflexion in die Kunst, den Kult der Schwierigkeit, des Denkprozesses als Werk, also jene Charakteristika, die wir heute mit der literarischen Moderne verbinden. Die Moderne assoziiert er darüber hinaus mit einem Abstraktionsprozess, wie er dies 1855 im Vierten Buch des Grünen Heinrich vorführte. Heinrichs Zeichnen in seiner Münchener Zeit sieht aus wie ein "ungeheures graues Spinnenetz", eine "gedankenlose Kritzelei"; sein Freund aber lobt nicht nur zweideutig, sondern unverhohlen höhnend, dass dies "Schraffierungen an sich" seien, die das "schwebende Schöne" darstellten, die ins "Nichts zurückabstrahierte" Kunst.

    Martin Mosebach hat darauf aufmerksam gemacht, dass Keller damit eine Entwicklung vorweggenommen hatte, die Kandinsky sechs Jahrzehnte später, gleichfalls in München, zum Thema der bildkünstlerischen Moderne werden ließ. Die Linie als Sinnbild des geistig Schönen, der reinen Abstraktion, wurde zum Signum einer Kunst, die sich zu autonomisieren begann.


    Die Problematik des Modernen scheint Keller so bedrängt zu haben, dass er gar nicht anders konnte als noch in seiner letzten großen Schaffensphase zu einer ganz eigentümlichen Parodie des literarisch Modernen anzusetzen. So in seinem Novellenroman Das Sinngedicht (1881), der zwischen der Letztfassung des Grünen Heinrich und des Martin Salander steht und wohl zu Unrecht als epigonale Spätestromantik abgetan wird.

    Über das moderne Leben legt auch Gottfried Kellers letzter Roman Martin Salander Zeugnis ab, aber auch die erste Seite des wunderlichen Romans Das Sinngedicht. Sie trägt die Überschrift: "Ein Naturforscher entdeckt ein Verfahren und reitet über Land, dasselbe zu prüfen". Reinhart heißt dieser Wissenschaftler, dessen Studierstube jener Doktor Faustens gleicht, "aber durchaus ins Moderne, Bequeme und Zierliche übersetzt" wirkt. Statt der malerischen Esse, der ungeheuerlichen Kolben und Kessel gab es da nur feine Spirituslampen und leichte Glasröhren, Porzellanschalen und Fläschchen mit geschliffenem Verschlusse, angefüllt mit Trockenem und Flüssigem aller Art, mit Säuren, Salzen und Kristallen.

    Dieser moderne Faustus also analysiert die Struktur von kristallinen Festkörpern, was ihm aber eine Augenerkrankung einträgt. Doch seine eigentliche Empirie ist von anderer Art. Er bedient sich dabei eines Sinnspruchs des Friedrich von Logau:

    "Wie willst du weiße Lilien zu roten Rosen machen?/
    Küß eine weiße Galathee: sie wird errötend lachen."


    Diese Sentenz nun behandelt Reinhart wie ein Kristall, wie ein Prisma, durch das er in den folgenden Episoden seine weiblichen Bekanntschaften betrachtet. Sein "Verfahren" ist demnach ein empirisch-poetisches; sein Vorgehen eher fabulierend denn szientistisch.

    Er begegnet Frauen von derartiger Schönheit, die im Widerspruch stehen zu dem sonst bei Keller als entschieden "nicht schön" wahrgenommenen "modernen Leben". Eine dieser Frauen scherzt indem sie vorschlägt, ihre Schönheit eigens zu verzollen. Damit wird Reinharts Bestimmung als Naturwissenschaftler vom Erzähler zunehmend mit Ironie, wenn nicht Hohn, kommentiert. Nur als Erzähler von parabelhaften Novellen über unwahrscheinliche Liebesbeziehungen kann Reinhart seine Glaubwürdigkeit halbwegs erhalten.

    In einer der Episoden greift er sogar ein Bild der Moderne auf. Ein Deutschamerikaner führt seine Geliebte aus tiefer Provinz ins moderne Leben ein, fährt mit ihr nach London, damit sie die Sprache der Zukunft richtig erlerne, führt sie dort aber in ein Konzert, in dem ein "berühmter deutscher Männerchor" auftrat. Offenbar befindet man sich in der Royal Albert Hall, in einer ...

    "... weiten Halle, wo Tausende von Menschen als Zuhörer versammelt waren. Sie wagte sich kaum zu rühren, mitten in dem Heere von reichen und geschmückten Leuten sitzend, und vernahm nicht eben viel einzelnes von den Gesängen."

    Dann singen diese gut hundert Sänger "wie ein Mann" altdeutsche Volkslieder aus Des Knaben Wunderhorn. Moderne und Antimoderne treffen hier aufeinander und werden eine Art gruppensolistisches Ereignis.

    Was gewinnen wir aus allem? Sprachliche Schönheit von stillem Glanz, eine Prosa, die sich an keiner Stelle gestattet, aus der Rolle zu fallen. Man könnte auch sagen, wir gewinnen einen erzählten, novellenreichen Einspruch gegen das Schnöde der modernen Zeit, aber eben auch ein subtiles Plädoyer für Wahrhaftigkeit im Fühlen und Schreiben.

    Das Moderne Gottfried Kellers verweigert sich dem Modernistischen. Es gestattet sich eine sehr reale Utopie, jene nämlich von Erzählungen, die dem Leser erlaubt, sich in der Welt zurechtzufinden, ein Erzählen, das in einer Welt der Brüche Verbindungen stiftet, wirklichkeitsfähige, weil vom Menschlichen her imaginierte Zusammenhänge, und sei es nur einen Abschnitt, einen langen Erzähleratem lang.