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Goya. Die Geburt der Moderne

Die Welt ist ein Maskenspiel: das Gesicht, die Haltung, der Gang und die Stimme: alles Trug. Jeder möchte scheinen, was er nicht ist, alle lügen, und niemand kennt sich selbst.

Martina Wehlte-Höschele | 20.05.2002
    Mit diesem Kommentar der Caprichos eröffnet Fred Licht eine faszinierende Darstellung zu Leben und Werk des spanischen Malers, der damit in der Reihe opulenter Künstlermonographien aus dem Münchner Hirmer-Verlag würdig vertreten ist. Wie schon die Namen der bisherigen Autoren Gewähr dafür waren, dass ihre Bände über Giorgione, Tizian, Rembrandt oder Delacroix den Rang von Standardwerken erlangen würden, so auch in diesem Fall. Der über siebzigjährige Fred Licht, Kurator an der Peggy Guggenheim Sammlung in Venedig, ist ein profunder Kenner der spanischen Kunst und Kulturgeschichte, der vielfach über Goya gearbeitet und ihn dabei als einen Urvater der Moderne zu verorten gesucht hat.

    Nun ist der Begriff ,die Moderne', der von jeglichen Skribenten des Fachs so gerne im Munde geführt und auch im vorhegenden Titel verwendet wird, kein klar umrissener Terminus und also durchaus diskussionswürdig. Es ist deshalb kein gering zu schätzendes Verdienst, dass es dem renommierten Wissenschaftler gelungen ist, aus einem komplexen kunsthistorischen Bezugssystem heraus zur Verständnisklärung beigetragen zu haben. Doch wie das? - Bei einem Maler aus dem erzkonservativen Spanien des achtzehnten Jahrhunderts? Wo doch ,die Moderne' mit ihren Wurzeln in der zweiten Hälfte des neunzehnten gemeinhin fürs zwanzigste Jahrhundert reklamiert wird, als sich Subjektivismus und Liberalität Bahn brachen. Freilich im Dreigestirn des spiritualistischen El Greco, des Vollenders Diego Velázquez und Goyas ist letzterer der Innovative, dessen Werk sich schon bald aus den Konventionen löst, weil er das Überkommene zunehmend individuell auffasst und mit neuen malerischen Mitteln arbeitet. Es ist der Kolorismus seines großzügig schwungvollen Pinselstrichs, der auf die Impressionisten vorausweist. Es ist die furiose Lichtregie, die - in der Nachfolge Rembrandts - die Bilddramatik emotional aufs Höchste steigert. Es ist eine nie zuvor gekannte Wahrhaftigkeit, die den Betrachter gelegentlich schwanken lässt, ob er sich einer Karikatur oder der unbarmherzigen Wiedergabe der launenhaften Natur gegenübersieht. Es ist schließlich ein gnadenloses Erkenntnisinteresse und die Berufung, Zeugnis ablegen zu müssen von den Greueln seiner Zeit, die niemand nach ihm mit so selbstquälerischer Verzweiflung festgehalten hat, doch ohne die weder Die Erschießung Kaiser Maximilians noch die Kriegsbilder von Otto Dix noch auch Guernica denkbar wären.

    Wie groß ist die künstlerische Spannweite, wie tiefgreifend muss die persönliche Entwicklung gewesen sein von den anmutigen Figürchen und Tendeleien auf den traditionellen Gemälden der siebziger und achtziger Jahre zu der großformatigen Erschießung des 3. Mai 1808 und den Pandämonien der zwanziger Jahre. "Yo lo vi" - "Ich habe es gesehen": das gilt nicht nur für die Radierfolge der Schrecken des Krieges , deren unvorstellbare Grausamkeiten in ästhetisch sublimierter Form bei Salvador Dali und den Surrealisten wiederkehren, wahrend sich an anderen Beispielen Vorklänge auf Alfred Kubin und kafkaeske Züge finden.

    Der erste Hofmaler Karls IV., der in den beiden Fassungen der nackten und der bekleidetem Maja um 1800 die süßeste Verlockung des Weibes geschaffen hatte, malte zur selben Zeit die Königin als Ausbund an Hässlichkeit, wie es erst wesentlich später die Realisten wagen würden.

    Fred Licht zeigt Goya als einen radikalen Künstler in einer Zeit geistigen Umbruchs, dessen Kräfte sich in seinem Werk wie in einem Brennglas bündeln. So wird er im Vergleich mit zahlreichen überzeugenden Bildbeispielen nachfolgender Künstler greifbar als die traditionsstiftende Kraft für die moderne europäische Malerei. Es ist nur folgerichtig, dass die Kapitel des Buches nicht chronologisch sondern nach Werkgruppen geordnet sind. So ist der intendierte Ansatz gut nachzuvollziehen. Auch ist die äußerste Beschränkung des Autors bei der Angabe von Sekundärliteratur und der Verwendung von Fußnoten wohltuend, zumal er schon eingangs auf die wichtigsten weiterführenden Werke zum Thema verwiesen hat. Es ist ein äußerst anregendes und beeindruckendes Buch entstanden, das sich seiner Sache zu Recht absolut sicher ist.