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Grablegung des Ackermanns von Kärnten

Roppongi heißt ein Stadtteil Tokios. Dort erfährt der Kärntner Schriftsteller Josef Winkler, der im November 2004 mit seiner Frau und seinen beiden Kindern auf Lesereise in Japan ist, vom Tod seines 99-jährigen Vaters. Am denkbar weitesten von seiner verhassten Heimat und dem übermächtigen Vater entfernt, der den jungen Bauernsohn lieblos als "Leibeignen" behandelt hatte, gibt es für Winkler keine Chance mehr, rechtzeitig zur Beerdigung das Heimatdorf zu erreichen.

Von Wolfram Schütte | 07.03.2008
    So entzündet er im Augenblick der Kärntner Beisetzung in einem Tokioter Hotelzimmer eine Kerze: "Dem über eine halbe Stunde lang aufmerksam zuhörenden neunjährigen Kasimir und der ebenfalls stillhaltenden Siri erzählte ich Schönheiten und Grausamkeiten aus meiner Kindheit", erinnert er sich an diesen Augenblick nun in seinem jüngsten Buch "Roppongi". Er nennt es "Requiem für einen Vater". Nicht für "meinen" oder "den" Vater (wie Kafka schrieb). Der unbestimmte Artikel drückt eine fortdauernde Distanz aus. Aber dem Hass, der Wut und der Empörung über seine unglückliche Kindheit und Jugend unter dem tyrannischen Patriarchen in der archaischen Dorfgemeinschaft, die Winklers Trilogie "Das wilde Kärnten" in literarisch eindrucksvolle Anklageschriften & Todessymphonien übersetzt hatten, ist in dieser elfteiligen Totenmesse einer milderen Beurteilung des Vaters gewichen.

    Der von seinem vierten Lebensjahr an acht Jahrzehnte lang bis ins höchste Alter arbeitende "Ackermann von Kärnten" hatte dem aus der Bauernart geschlagenen Sohn, der sich als Schriftsteller an seiner unheimlichen Heimat gerächt hatte, einmal verflucht: "Was bist Du für ein Schwein und Sauhund! Ich möchte nicht, dass Du zu meinem Begräbnis kommst". Aber der Vater hatte auch ein andermal gefleht: "Du kannst über mich schreiben, was du willst, wenn es nur dir hilft". Und schließlich, erzählt der Sohn jetzt, wie er - heimgekehrt - mit dem Vater das einzige Buch, das dieser je gelesen hatte, vergeblich auf dem Dachboden des Bauernhauses gesucht hatte: "Tausend und eine Nacht".

    Zweifellos ist der Tod des Patriarchen, unter dem der Schriftsteller lebenslang gelitten hat, aber ohne dieses Leiden er auch nicht Schriftsteller geworden wäre, ein folgenreicher Einschnitt in Josef Winklers Leben und Schreiben. Hatte er doch als Autor immer wieder des Vaters Nähe gesucht, und (mit seinem Notizheft und seinem "Filmkamerakopf" bewaffnet) "den Alten mehrere Jahre lang nicht aus den Augen gelassen, um ein neues Buch schreiben zu können". Der (gleich dem Vater) arbeitswütige Künstler - und was für ein Artist der Sprache und der Komposition ist jetzt wieder "Roppongi"! - hat, nachdem er den Familien- & Dorfstoff aufgebraucht hatte, "neues Material zum Schreiben" andernorts gesucht. Erst während eines langen Aufenthalts in Neapel und Rom, was sich in seinem Roman "Friedhof der bitteren Orangen" niederschlug, und dann aufgrund mehrfacher Reisen ins indische Varanasi am Ganges. "Keine andere Stadt auf Erden ist des Todes wegen so berühmt", wie diese heilige Stadt der Hindus, deren Tote dort am Einäscherungsplatz öffentlich massenhaft verbrannt, wenn sie nicht als gestorbene Kinder oder Sadhus im Ganges versenkt werden. In Varanasi konnte Winkler "mit Füllfeder und Notizbuch beobachtend und aufschreibend an der Verbindung zwischen Leben und Tod teilnehmen und teilhaben" - wie er jetzt die zentrale Obsession und Passion seines Werks charakterisiert, dessen indische Entflammungen er in seinem Roman "Domra - Am Ufer des Ganges" 1996 festgehalten hatte.

    Josef Winklers "Requiem" ist nun aber mehr als nur ein "absolvo te" für einen ungeliebten Vater, dem der Sohn erinnernd gemeinsame Erlebnismomente nachruft. Als Abwesender der väterlichen Beerdigung im Kreise der nach wie vor verhassten Dorfgemeinschaft imaginiert sich der Schriftsteller das heimische Begräbnis bis in kleinste Details - wie die erst im Sarg unter der Erde über der väterlichen Leiche aufblühenden Gladiolen.

    Jedoch die ins Satirische und Phantastische gesteigerte Beschwörung der Kärntner "Grablegung" ist nur eine von drei ineinander montierten Evokationen des universell unterschiedlichen Totenkults und seiner Abschiedsrituale. Neben sie tritt zum einen der Bericht von Winklers Indienreisen zur großen Verbrennungsstätte in Varanasi und seinen dortigen Erfahrungen; zum anderen stehen vor jedem der elf Kapitel Zitate aus einem Kommentar der japanischen Narayama-Lieder, die davon erzählen, dass die Kinder auf ihrem Rücken die Alten zum Sterben in eine eisige Bergödnis tragen, die übersäht ist mit Knochen und Skeletten der Vorfahren. Der durch seine distanzierte Unbestimmtheit zuerst irritierende Untertitel von Josef Winklers "Requiem" erfährt durch diese dreifache Parallelaktion seine Rechtfertigung: "für einen Vater" bedeutet: für alle Väter in diesen drei unterschiedlichen Kulturen.

    Aber die bewundernswerte literarische Kompositionskunst Josef Winklers zeigt sich erst, wenn man das ebenso subtile wie engmaschige Netz von Themen- & Motiv-Spiegelungen, -Wiederholungen & -Variationen wahrnimmt, mit denen er, bis zu einzelnen Worten, die drei Erzählungen von den Todesritualen mit- & ineinander verknüpft: zu einem glühend-kaltblütigen Totentanz, der in einem bewegenden Kindheitsbild verglimmt: während der "sich in die Bauernzeitung vertiefende und nichts ahnende" Vater "ein paar Meter entfernt von mir auf dem Sparherd" in der Küche des Kärntner Bauernhauses saß, weinte der junge Josef so "bitterlich" über Karl Mays sterbenden Winnetou, "dass sich auf den Fußboden der Küche eine kleine Lache mit schmutzverschmierten Tränen bildete".

    Josef Winkler: Roppongi. Requiem für einen Vater.
    Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a. M. 2007. 161 Seiten