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Grafischer Roman
Rezession in Grautönen

Wirtschaftskrisen können eine Gesellschaft innerhalb kürzester Zeit an den Rand des sozialen Abgrundes bringen. Dabei trifft es meist die kleinen Leute. Davon erzählen auch der Autor James Vance und der Zeichner Dan Burr in ihrer Graphic Novel "Auf dem Drahtseil", angesiedelt im Amerika der 30er-Jahre.

Von Martin Zähringer | 15.08.2014
    Identifikation und Einfühlung, vor allem aber die Denkanregung, sind erklärte Wirkungsabsichten politischer Literatur, und im Medium Bild geht das besonders gut, so wie in diesem grafischen Roman mit historischem Hintergrund.
    Die Handlung ist vielschichtig und das Thema hierzulande recht neu, zeichnerisch wird ein dezent zurückgenommener Realismus mit gespanntem Strich in Schwarz-weiß geboten. Die Chancen stehen also nicht schlecht, ein paar notwendige Gedanken über Politik und Elend in Amerika anzuregen.
    Für die Zirkuskünstler ist die Lage in der Großen Depression gar nicht mal so schlecht, werden doch viele von staatlichen Einrichtungen aufgefangen. Für sie hat die Workers Progress Administration (WPA) in New York einen großen Zirkus mit hunderten von Stellen eingerichtet, zum Wohl der Allgemeinheit.
    Dieser WPA-Zirkus verfügt auch über eine fahrende Truppe, und hier heißt eine Hauptattraktion: "Gordon Corey Escapes" also etwa: Gordon Corey kommt davon. Gordon Corey ist ein Entfesselungskünstler, der mit auf dem Rücken gefesselten Händen und einem dicken Hanfseil um den Hals auf einem Galgenpodest steht. Er lässt das Publikum auf Fünf zählen, ein Helfer öffnet die Falltür - und weil der wirkungsästhetische Antrieb des ganzen Stückes einem realistischen Ansatz folgt, wird die zeichnerische Vorstellung dieser Nummer filmisch umgesetzt: Zuerst eine Großaufnahme mit dem Künstler auf dem Galgenpodest, dann Schuss auf Coreys Gesicht, Gegenschuss aufs Publikum, das wiederholt sich, Corey mit dem Galgenstrick in der Hand wird immer stärker eingezoomt und auf der nächsten Doppelseite vollendet er seine Rede an das Publikum:
    "Freunde, wir alle haben in diesen Zeiten Angst ... Hängen in den Seilen wie eine Nation von Boxern mit Gehirnschäden. Aber nur weil die Welt uns blutig geschlagen hat, lassen wir uns nicht auszählen, wir nicht. Hier spucken wir dem Teufel unsere Angst ins Gesicht, für einige wenige Minuten und für den Preis einiger Cent ... Das nationale WPA-Theaterprojekt mit seinem Wanderzirkus bietet Ihnen – Befreiung."
    Es folgt eine weitere Doppelseite mit 16 scharf konturierten Einzelbildern: Die Abfolge des Fesselns mit den Handschellen, des Seilumlegens um den Hals, des Auszählens und hoch gespannten Blickwechsels zwischen Gordon und seinem Helfer, das zu Tode erschrockene Publikum und dann – man muss erst umblättern:
    "Ladies and Gentlemen, hier wurde Ihnen Befreiung zuteil!"
    Dramaturgische Perfektion
    Gordon Corey hat im freien Fall noch die Handschellen gelöst und zieht sich selbst am Seil wieder auf das Podest. Die dramaturgische Perfektion geht ganz auf Gordons Kappe, aber die packende Ansprache hat der echte Held des Stückes geschrieben - sein 18-jähriger Helfer Fred Bloch, eigentlich Manfred Bloch, Amerikaner deutsch-jüdischer Abstammung, unser Erzähler.
    Fred bringt Tiefe in die Geschichte. Zum einen hat er eine tragische Vergangenheit, in die der grafische Roman immer wieder abtauchen wird. Dann sieht man in Rückblicken, die übrigens Rückblicke in den Vorläufer "Kings in Desguise" sind, wie Fred als Heranwachsender durch das Land vagabundiert, seinen väterlichen Hobo-Freund und später bei einem Zugunfall ein Bein verliert. Von der Straße holt ihn schließlich eine Genossin der Arbeiterbrigaden, die gerade in einer Hochphase der Streikvorbereitung stecken, meist junge Akademiker und Intellektuelle, die dem zerlumpten Landstreicher nicht direkt über den Weg trauen. Bis Fred seine Geschichte erzählt:
    "Na ja, ich demonstrierte als Kind vor einer Ford-Fabrik, mein bester Freund wurde dabei zu Tode getrampelt, und ich sah zu, wie einem Mann in den Kopf geschossen wurde ... Wenn sie mich nicht angestachelt hätten, hätte ich es nie erwähnt. Wer konnte ahnen, dass der eigene Albtraum für jemanden anderen eine Legende wäre."
    Fred wird zum mobilen Mittelsmann für geheime Briefsendungen zwischen den Streikkomitees und der Zentrale in New York und kommt zum Wanderzirkus. Und zum zynischen Menschenfeind Gordon Corey, der selbst eine ganz besondere Geschichte aus der Arbeiterbewegung zu verbergen - und nach und nach zu erzählen hat.
    Coreys dunkelste Zeit als Schläger für die im CIA-Auftrag wütenden Streikbrecherbanden der Pinkerton-Detectices. Während Corey diese Geschichte selbst aufzeichnet, erscheinen sein Ex-Kumpel Virgil und dessen Gorilla Vance auf dem Plan. Diese professionellen Streikbrecher, ihre Auftraggeber nennen es Arbeitnehmerkontrolle – sind auf der Suche nach dem geheimen Briefboten und ihre blutigen Kreise um den Zirkus werden immer enger.
    Grafische Umsetzung des subjektiven Erinnerns
    So spannend und komplex der Autor James Vance die Arbeitergeschichte Amerikas vergegenwärtigt, so anschaulich inszeniert der Zeichner Dan Burr die verschiedenen Erzählebenen und Zeiten, die dem Werk seinen Romancharakter verleihen. Die Erzählzeit verfügt über das gesamte Spektrum an Grautönen, und je tiefer die Erinnerungs-Szenen reichen, umso fragiler erscheint die Figur-Grund-Beziehung, sodass teilweise nur noch die Figuren gezeichnet werden.
    Das ist eine gelungene grafische Umsetzung des subjektiven Erinnerns. Sie verleiht dem Werk ebenso eine mimetische Qualität wie die expressive Mimik der Figuren. Räumlich überzeugt das einfallsreiche Framing innerhalb der Einzelbilder. Die Figuren sind immer in Bewegung und erscheinen in wechselnden Rahmungen, seien es Fenster und Türen, Spiegel und vor allem Fahrzeugöffnungen. Dynamische Perspektivenwechsel wie über und unter dem Galgenpodest vertiefen die Raumwirkungen, und Szenenwechsel erfolgen oft durch gestische Doppelungen. Wenn etwa am entspannten Ende einer Szenenfolge die Journalistin im Hotel eine Zigarette raucht, raucht Corey im Anfangsbild der Folgeszene im Wohnwagen seine Pfeife.
    Wie ein guter Erzähltext durch sprachliche Vielschichtigkeit wirkt, präsentieren die Bilder von Dan Burr sozusagen nachhaltige Schauwerte. Ein Beispiel: Wenn Fred Bloch in den ersten Szenen im Zirkus immer in einer etwas merkwürdigen Körperhaltung erscheint, liegt das an einem Umstand, den man erst später erfährt. Bis dahin bemerkt man diese unauffällige Auffälligkeit gar nicht so recht. Einstweilen greifen beim Leser schon die ersten Häkchen der Sympathie, und darum geht es in dieser auf Solidarität abzielenden Erzählung - man soll und kann mitgehen, auch mit einem lädierten Helden.
    James Vance, Dan E. Burr: "Auf dem Drahtseil", Grafischer Roman. Übersetzt von Egbert Hörmann, Walde&Graf bei Metrolit, 254 Seiten.