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Grand Central Station

Zwölf Jahre lang lebte Lee Stringer auf der Straße. Er sah New York von ganz unten, eine Zeit lang bewohnte er eine Höhle unter der Metrostation "Grand Central Station". Lee Stringer sammelte leere Coladosen, um das Pfand gegen ein Sandwich einzutauschen. Er nahm Crack, um die Mühen seines Daseins zu vergessen. Auf die Frage, ob damals die Droge oder die Obdachlosigkeit sein größeres Problem gewesen seien, sagt er: Keines von beiden. Beide seien ein Symptom, Ausdruck eines versteckten Leidens:

Tanya Lieske |
    "Viele Leute begreifen die Obdachlosigkeit als Problem, aber das stimmt nicht, sie ist eher ein Zustand. In den achtziger Jahren führte ich ein Leben, das nicht zu mir passte, und das war mein Problem. Ich hatte alles, was man angeblich so braucht, ein kleines Unternehmen in der Upper West Side, mein eigenes Einkommen, man könnte sagen, ich machte Karriere, nur gab mir das alles nichts, ich fühlte mich leer."

    Zu der Leere eines Juppie-Daseins in den achtziger Jahren kamen persönliche Schicksalsschläge. In rascher Folge starben Lee Stringers Vater, Bruder und Geschäftspartner. Er betrank sich, um den Kummer zu vergessen, nahm Crack, um den Suff zu vergessen, er brauchte Geld für Drogen, konnte aber nicht mehr arbeiten. Dann schloß sich die Tür hinter seinem Apartment für immer.

    "Ich habe immer gedacht, mein Gott, wenn ich je auf der Straße lande, dann ist alles vorbei. Als es dann soweit war, hatte ich ein ganz anderes Gefühl, nämlich daß sich jetzt neue Chancen auftun würden."

    "Grand Central Winter" bietet den Lesern alles, was man von dem autobiographischen Bericht eines ehemaligen Obdachlosen erwarten kann. Schillernde Typen treten auf, die das tägliche Überleben im Nahkampf meistern, es werden Messer an Kehlen gesetzt und Müllsäcke nach Essensresten durchwühlt. Trotzdem ist es nicht die große Sozialreportage geworden, die der Untertitel "New York - ganz unten" vermuten läßt, und das war sicher gut so. Lee Stringer erzählt keine kontinuierliche Geschichte, sondern er hebt einzelne Facetten des Lebens auf der Straße hervor. Seine Essays verbindet eine zentrale, durchaus philosophisch anmutende Frage: Welche Erfahrungen muß ein Mensch machen, damit er die Lektion seines Lebens lernt?

    "Nur die Hälfte kann man über den Erfolg begreifen, unsere Fehler sind genauso wichtig. Wir tun uns damit schwer, wir sagen, "ich habe einen Fehler gemacht, das ist schlecht". Ich glaube, wir alle fuchteln auf diesem Globus herum, um uns einen Weg durch unser Leben zu bahnen. Zu diesem Zweck bekommen wir verschiedene Requisiten gestellt, und einige stehen vorteilhafter da als die anderen. Aber wir alle haben unsere stillen Stunden, in denen wir erfahren, wer wir wirklich sind."

    Das wohl wichtigste Requisit in Stringers Leben war ein Bleistiftstummel. Den trug er bei sich, um seine Crack-Pfeife zu stopfen, dann aber fiel ihm ein, daß man mit einem Bleistift ja auch schreiben kann:

    "Ich schrieb eine Geschichte, um die Zeit totzuschlagen. Plötzlich waren fünf Stunden vergangen, ohne daß ich mich um meinen nächsten Trip gekümmert hätte. Und noch etwas außergewöhnliches war geschehen: Ich hatte eine Geschichte geschrieben über einen Mann, der stirbt, und ich konnte dessen Schmerzen fühlen. Man muß verstehen, daß ich Drogen nahm, die die Gefühle betäuben."

    Stringers Kurzgeschichte wurde in der Obdachlosenzeitung "Street News" gedruckt, später schrieb er in der New York Times und wirkte bei verschiedenen Anthologien mit. Sein erstes Buch, "Grand Central Winter", stieß in Amerika auf große Resonanz. Mittlerweile ist Lee Stringer ein gefragter Gastredner, der unlängst in einer Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen auftrat. Trotz dieser enormen Karriere weigert sich Stringer, der bald fünfzig Jahre alt wird, sein Leben in drei Teile zu teilen, in ein Davor, ein Mittendrin und ein Danach. Es sei alles eine große Reise gewesen.

    "Es wäre viel zu einfach gewesen, aus meinem Buch den Bericht einer Heilung zu machen. Für mich ist die Landschaft, durch die ich gefahren bin, viel zu interessant, als daß ich meine Rückkehr feiern möchte. Als Obdachloser bin ich viel weiter gereist als viele andere Menschen, und das ist es, was mich interessiert."