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Grandseigneur mit Seidenschal

Marius Müller-Westernhagen zählt zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Rockmusikern, mit mehr als zehn Millionen verkauften Alben und gigantischen Stadiontourneen. Doch zur Jahrtausendwende wurde es ruhiger um ihn. Nun tourt er wieder durch Deutschland - und Fabian Elsäßer zeigt sich unerwartet angetan..

Von Fabian Elsäßer | 22.09.2012
    Was hab ich ihn früher gehasst, damals, in den 90ern. Diese Optik mit Schlangenlederstiefeln und lindgrünem Glitzerjackett, diese knödelige Stimme, dieses hysterische Rumgegockele, diese Texte, die mir entweder zu machomäßig oder zu bemüht vorkamen.

    Und dann sieht man ihn 20 Jahre später zum ersten Mal live und stellt fest: was für ein Spitzenentertainer. Ertappt sich dabei, wie man auf einmal mit 1000 anderen aufsteht – wie ferngesteuert – und aus voller Kehle mitsingt.

    Sich pudelwohl fühlt, im Reinen mit sich und der Welt, mit der eigenen Jugend, sogar mit den 90er-Jahren. Das war 2010, auf der "Williamsburg"-Tour. Nun also schon wieder Westernhagen live. Die Hallen sind nicht so voll wie damals, in Köln zum Beispiel sind "nur" 10.000 Zuschauer in die grotesk große Lanxess-Arena gekommen, vielleicht weil viele glaubten, das alles ja gerade erst gesehen zu haben. Doch dieses Konzert ist mehr als ein Aufguss, es ist die konsequente Weiterentwicklung einer gut geölten Inszenierung.

    Westernhagen gibt sich aktuell, eröffnet mit einem politischen Dreisatz über rechte Gewalt und hilflose Staatenlenker. "Wir haben die Schnauze voll" vom letzten Album, "Schweigen ist feige". Sein Lied vom schwarzen Mann, auch fast 30 Jahre alt, hat er umgetextet in "Der braune Mann". Die Textzeilen erscheinen etwas plakativ auf der strahlend weißen Projektionswand, aus der sich ein schemenhafter Kopf zu befreien versucht, den Mund zu einem stillen Schrei verzerrt.

    Überhaupt sind die Videoanimationen und begleitenden Filme beeindruckend, wenngleich man auf die laszive Table-Dancerin bei "Sexy" auch gut hätte verzichten können.

    Mehr noch als der ganze optische Bombast aber überzeugen Musik und Bühnenpräsenz. Westernhagen ist angesichts seines Alters unfassbar gut bei Stimme und seine neun Musiker, bis auf Gitarrist Markus Wienstroer ausnahmslos amerikanische Studiokönner, sind perfekt aufeinander eingespielt. Diese wohl beste Begleitband, die Westernhagen je hatte, macht selbst älteste Song-Gäule unerwartet zum Pegasus.

    Und da sie kein Wort von dem verstehen, was Marius Müller-Westernhagen da vorne singt, was dieser immer mal wieder für einen netten Ansagenjux benutzt, staunen sie sichtlich, wie das entfesselte Publikum etwa bei "Pfefferminz" jede Zeile mitsingt. Würden sie es verstehen, sie staunten noch mehr.

    Es mag eine Nostalgieveranstaltung sein, die die selbst ernannten Hipness-Wächter der Musikjournaille bestimmt ganz schlimm finden. Aber ist nicht auch dies das Wesen des Rock 'n' Roll: den Eskapismus über die Jahre zu retten? Genau das gelingt dem zierlichen Sänger in jeder Minute dieser grandiosen Show. Wie angestochen tippelt Westernhagen über die sportplatzmäßige Bühne, optisch den Grandseigneur mit Seidenschal und Lennon-Brille gebend, er badet im Applaus, springt in den Fotografengraben, um der ersten Reihe die Hände zu schütteln, würde wohl am liebsten die ganze Halle umarmen.

    Nur zur Erinnerung: Dieser Mann ist 63 Jahre alt. Er bringt auch für uns die Zeit zum Stillstand, mehr als zwei Stunden lang. Und für dieses Kunststück muss man ihn einfach gernhaben.