Donnerstag, 28. März 2024

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Grass, die "Gruppe 47" und die SPD
"Alle waren überrascht, dass dieser Anarch Willy Brandt kennenlernen wollte"

Mit der "Gruppe 47" gründete sich Ende der 1940er Jahre ein Kreis junger Literaten, die sich auch politisch engagierten. Dass Grass dazu gehören wollte, habe viele überrascht, sagte Helmut Böttiger, der die Geschichte der Gruppe aufgeschrieben hat, im DLF. Sein politisches Engagement habe Grass geholfen – später aber auch geschadet.

Helmut Böttiger im Gespräch mit Michael Köhler | 13.04.2015
    Michael Köhler: Der Literaturkritiker Helmut Böttiger hat ein Buch über die Geschichte der literarischen "Gruppe 47" geschrieben, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Hans Werner Richter ins Leben gerufen wurde. Ihn habe ich gefragt: War Günter Grass innerhalb der Gruppe 47 schon von Anfang an ein Star?
    Helmut Böttiger: Ja. 1958 trat er als bärtiger junger Bildhauer aus Paris plötzlich im Gasthof Adler in Großholzleute auf und er sollte am Anfang eigentlich hinausgeworfen werden, weil er aussah wie ein Landstreicher. Er las aus der Blechtrommel, ein anarchisches sprachspielerisches Werk, das alle sofort in einen Begeisterungstaumel ohnegleichen versetzte, und dann waren alle überrascht, dass dieser Anarch, dieser wüste Sprachspieler plötzlich auch Willy Brandt kennenlernen wollte. Der Gruppeninitiator Hans Werner Richter, der Chef der Gruppe 47, hat damit gar nicht gerechnet, dass er diesen Typen für die Sozialdemokratie begeistern könnte, und durch diese Bekanntschaft mit Willy Brandt, durch Vermittlung von Hans Werner Richter und die Gruppe 47, wurde Günter Grass eigentlich erst dieser politisch wahrgenommene Autor. Vorher galt er als ein anarchischer Künstler, der mit Politik eigentlich gar nichts zu tun hatte.
    Köhler: Das ist interessant, denn die Nähe von Geist und Politik, die war in den 60ern, frühen 70ern ja kennzeichnend für diese Autorengeneration. Vielleicht auch in gewisser Hinsicht einmalig für die Zeit? Entspannungspolitik '69, Grass und Lenz reisen mit Willy Brandt nach Polen, kommen selber aus den ehemaligen sogenannten Ostgebieten, sind also glaubwürdig als Unterstützer dieses Versöhnungskurses?
    Böttiger: Ja, das war eine, wahrscheinlich historisch einmalige Situation, dass in der Bundesrepublik die Literatur Dinge übernahm, die eigentlich Aufgabe der Politik gewesen wären. Das war in den 50er- und 60er-Jahren eindeutig der Fall, dass die Gruppe 47 in eine politische Bedeutung hineinwuchs, die sie eigentlich gar nicht haben wollte. Das war tatsächlich intendiert als ein literarischer Diskussionszirkel, aber diese jungen Literaten Ende der 40er-, Anfang der 50er-Jahre, die gegen die Restauration der Adenauer-Zeit waren, die mit dem Nationalsozialismus tatsächlich nichts zu tun haben wollten, denen fiel automatisch die Rolle einer atmosphärischen Opposition zu. Und in den 60er-Jahren, da war das tatsächlich so, dass die Gruppe 47 eine innenpolitische Größe war, die sehr viel von dem übernahm, was eigentlich im Parlament hätte geschehen müssen, und es ist kein Zufall, dass Autoren vor allem wie Günter Grass, Heinrich Böll, auch Siegfried Lenz auch eine große Bedeutung hatten und dass sie sich alle an der Seite Willy Brandts für die Sozialdemokratie engagierten, die natürlich dann 1969 mit der Kanzlerschaft Willy Brandts ein paar Jahre brachte, wo Geist und Macht identisch zu sein schienen.
    "Die Gruppe 47 hat den heutigen Literaturbetrieb im Grunde erfunden"
    Köhler: Helmut Böttiger, Sie haben der Gruppe 47 ein ganzes dickes Buch gewidmet, und wenn ich es richtig verstanden habe, ist der leitende Gedanke auch, dass da das entsteht, was wir eigentlich so als den jüngeren Literaturmarkt der Bundesrepublik kennen: Also eine Allianz aus Kritikern und Literaten?
    Böttiger: Die Gruppe wuchs in eine literaturpolitische Bedeutung hinein, die sie gar nicht wollte. Durch die politische Bedeutung merkten die Autoren, dass sie natürlich auch auf dem literarischen Markt im Grunde die Meinungsführer waren. Wer in der Gruppe 47 von den Kritikern gelobt wurde, dessen Karriere als Schriftsteller war im Grunde gesichert. Wer dort abgelehnt wurde, der hatte im literarischen Markt der Bundesrepublik eigentlich keine Chance mehr. Und von daher ergab sich etwas, was der Gründer Hans Werner Richter und auch Günter Grass als sein Lieblingsschüler gar nicht intendiert hatten, dass diese Gruppensitzungen jedes Jahr im Herbst zu einem literarischen Spektakel wurden, zu einer Börse. Alle Verlagsvertreter, die Journalisten, die rissen sich darum, da eingelassen zu werden. Die durften am Anfang gar nicht hin, weil es interne Werkstattdiskussionen sein sollten. Aber die waren nicht mehr auszuschließen. Die Geister, die Hans Werner Richter und Günter Grass da gerufen hatten, die wurden sie nicht mehr los. Man brauchte ja auch den Literaturbetrieb, man brauchte diese Funktionäre. Und von daher: Wer da eingelassen wurde, wer da dabei war, der war enorm wichtig. Und für die Schriftsteller ging es dann darum, sich als Model auf diesem Laufsteg zu präsentieren. Das war am Anfang überhaupt nicht intendiert, aber dazu hat es sich hin entwickelt. Die Gruppe 47 hat vor allem den heutigen Literaturbetrieb im Grunde erfunden.
    Köhler: Die jungen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, Walter Jens, Joachim Kaiser, Fritz J. Raddatz - andere wären noch zu nennen - sind auch dabei, die später ja auch zu Kritikern von Günter Grass werden. Ist er in gewisser Hinsicht ein bisschen Opfer seines eigenen Medienerfolges geworden?
    Böttiger: Ich glaube, ab Mitte der 60er-Jahre, als er sich sehr dezidiert für Willy Brandt aussprach, hat ihm dieses politische Engagement auch geschadet, weil in den literarischen Texten wurden auch Leitartikel-Töne, moralische Töne, propagandistische Töne immer mehr gehört. Günter Grass hat sich auch immer zu Wort gemeldet und Kritiker warfen ihm das verstärkt vor. Marcel Reich-Ranicki wurde im Grunde sein Lieblingsfeind. Die beiden haben sich in der Gruppe 47 kennengelernt und über Jahrzehnte hinweg bekämpft. Aber sie haben einander auch gebraucht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.