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Grass-Forscher: singulärer Glücksfall für die deutsche Literatur

Der Grass-Herausgeber Volker Neuhaus hat den mangelnden Respekt der Deutschen vor dem Literaturnobelpreisträger Günter Grass beklagt. Besonders das Spätwerk des gebürtigen Danzigers werde unterschätzt. Die Öffentlichkeit nehme nicht wahr, dass man "in Günter Grass den ganz singulären Fall eines weltweit gelesenen und von jüngeren Schriftstellern nachgeahmten Weltautors" habe, so Neuhaus.

Moderation: Karin Fischer | 16.10.2007
    Karin Fischer: Er ist eine historische Figur in ganz umfassendem Sinne schon heute. Günter Grass, Deutschlands bedeutendster Schriftsteller, der heute seine 80. Geburtstag feiert. Die große Politik würdigt ihn als politisch engagierten Streiter, als Kämpfer für Bürgerrechte und eine kritische Öffentlichkeit. Das Ausland bewundert ihn als großartigen Erzähler, obwohl er doch von der "Blechtrommel" bis zum "Krebsgang" so deutsche Stoffe aufgegriffen hat. Und er ist, das hat seine Biographie beim "Häuten der Zwiebel" im letzten Jahr gezeigt, immer noch eine große öffentliche Erregung wert. Er ist auch Künstler, das wissen wir, ein Multitalent also und kann sogar ziemlich gut tanzen, was er nicht erst 1999 beim Literaturnobelpreis-Schwof in Stockholm bewiesen hat. Dort erzählte er übrigens auch, wie das alles begann. "Wie wurde ich Schriftsteller, Dichter, Zeichner und alles zugleich auf erschreckend weißem Papier? Welch hausgemachte Hybris vermochte ein Kind zu solcher Verstiegenheit anzustiften? Denn ich war zwölf Jahre alt, als für mich feststand, Künstler werden zu wollen. Das war, als bei uns zu Hause, ganz nahe dem Vorort Danzig-Langfuhr, der Zweite Weltkrieg begann. Die fachliche Spezialisierung in Richtung Dichter bildete sich erst im folgende Kriegsjahr aus, als mir in der Zeitschrift der Hitler-Jugend "Hilf mit" ein verlockendes Angebot gemacht wurde. Ein Erzählwettbewerb stand ausgeschrieben. Preise wurden versprochen. Und zugleich begann ich, meinen ersten Roman in ein Diarium zu schreiben." Da war also alles schon da. Das Selbstbewusstsein und das Wissen, ich bin's. Was heute ist, wollen wir von Volker Neuhaus wissen, dem Grass-Forscher und Herausgeber seiner Werke.
    Volker Neuhaus, vor zehn Jahren, als Günter Grass 70 wurde, haben Sie in Köln einen Germanisten-Kongress veranstaltet, der - das schrieb jedenfalls Willi Winkler im SPIEGEL, ich zitiere - "bei verstocktem Desinteresse der außeruniversitären Öffentlichkeit" statt fand. Anfang September dieses Jahres gab es ein Grass-Symposium in Liverpool, bei dem Sie noch einmal betonten, so viele Grass-Forscher wären in Deutschland wegen der "schrecklichen öffentlichen Unterschätzung" des Schriftstellers nie zu versammeln. Bevor die gebildete Öffentlichkeit jetzt glaubt, der Forscher selbst sei der etwas wehleidigen Einschätzung des Schriftstellers einfach gefolgt, und an einem Tag, an dem wirklich alle die ehrenden Grußadressen schon abgegeben haben, lautet die Frage an Sie: Ist das immer noch so, und woran machen Sie diese "schreckliche Unterschätzung" fest?

    Volker Neuhaus: Ja, das ist immer noch so. Das mache daran fest. Es ist eine Neigung der Deutschen, unter der auch zwei andere unserer Weltautoren gelitten haben. Das war der späte Goethe und der späte Thomas Mann. Die sind keinesfalls besser behandelt worden, als Günter Grass jetzt. Wo die Unterschätzung drin liegt, das hat auch Eva Zelt nicht begriffen. Die hat damals in dem Artikel geschrieben, jede Äußerung von ihm findet doch breitestes Medienecho. Die öffentliche Gestalt wird wahrgenommen. Es wird nicht wahrgenommen, dass wir in Günter Grass den ganz singulären Fall eines weltweit gelesenen und von jüngeren Schriftstellern nachgeahmten Weltautors haben. Diese Rolle wird viel zu wenig gesehen. Es wird immer so gesagt: Das sind so Nachkriegsschriftsteller. Die sind jetzt mehr oder weniger tot. Es gibt jetzt noch eins, zwei, drei. Die leben noch, und einer davon ist Grass. So ist es nicht. Er spielt in einer Weltliga.

    Fischer: Welche jüngeren Schriftsteller meinen Sie, wenn Sie sagen, er wird "nachgeahmt"?

    Neuhaus: John Irving und Salmon Rushdie bekennen sich dazu. Zwei Autoren, die beide als Nobelpreiskandidaten gehandelt werden, bekennen sich dazu, von Grass schreiben gelernt zu haben. Rushdie sagte, sein Lektüreerlebnis als Oxford-Student in den 60er Jahren war die "Blechtrommel." Das brachte ihn auf die Idee, "Mitternachtskinder" zu schreiben. John Irving hat gesagt, wenn Grass Amerikaner gewesen wäre und wie ich aus dem äußersten nördlichen Neu-England käme, hätte er gar nicht gewagt zu schreiben. Aber da Grass über Danzig schreibt und er über Massasuchetts und Maine, wären da keine Berührungspunkte in einer ganz anderen Kultur. Aber für beide war Grass ein ganz überwältigender Eindruck.

    Fischer: Lassen Sie uns etwas beim Philologischen bleiben. Man kann durchaus darüber streiten, ob Forscher, die sich mit der Wirkmächtigkeit von Günter Grass in Ozeanien befassen, ein sehr fruchtbares Feld beackern, dennoch: Was sind denn die unterbelichteten Seiten von Günter Grass, was sein Werk betrifft?

    Neuhaus: Sicherlich kann ich jetzt wieder auf Thomas Mann und Goethe zurückgreifen. Goethe ist lebenslang gesagt worden, er hat nie wieder einen "Werther" geschrieben wie mit 25. Thomas Mann ist gesagt worden, er hat nie wieder "Die Buddenbrooks" geschrieben wie mit 26. Grass hat nie wieder eine "Blechtrommel" geschrieben wie mit 31. Das spätere Werk von Grass wird aus unterschiedlichsten Gründen für mich unterschätzt. Ich bin der Meinung, dass es Grass gelungen ist, was ganz extrem selten bei einem Autor ist, im 18-Jahres-Rhtythmus ganz, ganz großartige, alle Dimensionen sprengende Werke vorzulegen. Das ist 1977 der "Butt" gewesen. Das ist für mich auch 1995 "Ein weites Feld", was in Deutschland grotesk unterschätzt wird. Die meisten Leute meinen, man brauche das gar nicht zu lesen, weil Reich-Ranitzky dazu das letzte Wort gesagt habe.

    Fischer: Das kann natürlich auch damit zusammenhängen, dass die Zeit sich sehr verändert hat, und über den Stil von Günter Grass ist auch viel geschrieben worden, der einst, zu Zeiten der "Blechtrommel" oder der "Hundejahre" außerordentlich modern war, literarische Avantgarde, und der heute, je nach Standpunkt, als "barock" oder auch als etwas "altbacken" gilt. Was sagt das, wenn wir jetzt mal die Mondperspektive einnehmen, über den deutschen Autor und Erzähler Günter Grass?

    Neuhaus: Das sagt vor allem, dass er in einer Weise sein Instrumentarium immer wieder überprüft, dass die Kritiker das nicht mitbekommen haben. Es gibt gewisse Spracheigentümlichkeiten bei ihm, aber das ist eine meisterhafte Beherrschung der deutschen Sprache, die ihm sogar sein Intimfeind Reich-Ranitzky immer wieder bescheinigt. Aber er wechselt ständig den Erzählansatz. Bei jedem Werk kämpft er lange um einen völlig erneuen Erzählansatz. Was zum Beispiel beim "Weiten Feld" nicht gewürdigt worden ist, ist, dass er da in hohem Maße von der Literaturwissenschaft entwickelte Intertextualitätskonzepte benutzt hat und Texte, die aus Texten entstehen. "Ein weites Feld" entsteht rein aus Texten, und da wird eine Gestalt aus Texten konstruiert und wird dann wieder zum Text. Das sind alles sehr bewusst, mit sehr viel Meisterschaft und auch ungeheurem Fleiß erarbeitete Konzepte, die meines Wissens von der Tageskritik nicht adäquat gewürdigt oder auch nur Kenntnis genommen werden.

    Fischer: Was die öffentliche Person Günter Grass betrifft, so ist die Verleihung des Literaturnobelpreises 1999 auch als "Datum der Versöhnung zwischen einem Dichter und seinem Land" gefeiert worden. Wo stehen wir heute?

    Neuhaus: Es ist gar nicht so. Die FAZ ist mit Ressentiments und die WELT hat einen Hassartikel geschrieben. Da sei jemand geehrt worden, der es nicht verdient, und da stände eine linke Maffia dahinter. Es ist immer noch so: Grass wird mit Vorbehalten begegnet, die natürlich mit seinem öffentlichen Auftreten zusammenhängen und ein sehr, sehr prominenter Kritiker hat mir in der Fernsehdiskussion über "Häuten der Zwiebel" gesagt, das habe er nicht gelesen, aber er freue sich jetzt, Grass heimzahlen zu können, was ihn in 20 Jahren an dem Politiker Grass geärgert habe. Das könne man ihm jetzt heimzahlen. Das hat ein sehr bekannter Literaturkritiker offen vor laufender Kamera erklärt.

    Fischer: Er ist heute schon in der Presse schon wieder als "Staatsdichter" betitelt worden. Ein Titel, den er selber sehr wahrscheinlich nicht sehr gerne hört. Was ist er für Sie, Herr Neuhaus?
    Neuhaus: Für mich ist er einer der ganz großen Weltepiker und vor allem der große Beitrag der Deutschen Literatur zu einem Konzert der Weltliteratur. Da hat Goethe nicht irgendwelche großen Bücher darunter verstanden, sondern ein Zusammenwachsen, ein wechselseitiges produktives Kenntnisnehmen der einzelnen Literaturen. Da ist Grass die einzige deutsche Stimme in der zweiten Hälfte des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts. Das ist eine für die deutsche Literatur und die deutsche Kultur nahezu völlig singulärer Glücksfall.

    Fischer: Volker Neuhaus war das, Literaturwissenschaftler und Herausgeber der Werk-Ausgabe von Günter Grass. Vielen Dank!