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Grass' Größe

Eben wartet in einem dunklen Lagerraum der Grassstadt Danzig ein lebensgroßer Bronzegussgrass auf seine Aufstellung. Der Nobelpreisträger hatte sich ein Denkmal zu Lebzeiten verbeten. Man muss das verstehen: einem in edler Größe erstarrten Doppelgänger gegenüberzutreten ist bestimmt kein Spaß. Nun steht an der Stelle ein Oskar-Matzerath-Denkmal und erinnert an den größten Danziger Dichter, indem es seine populärste Figur in den öffentlichen Raum stellt, auch gut. Die Grass-Denkmal- und damit sozusagen Nachweltfrage, sie schien damit exemplarisch beantwortet. Es scheint aber nur so. Denn heute erreicht uns die Nachricht, dass der Steidl Verlag die Errichtung eines Grass-Archivs plane, nächstes Jahr sollen die Arbeiten beginnen.

Holger Noltze berichtet |
    Ein kleines Haus in der Göttinger Innenstadt soll es sein, und das klingt fast so, als wolle man sagen: Für so ein klitzekleines Grasshaus mehr in der Welt ist doch bestimmt noch Platz. Es sei der Wunsch des Meisters, so des Meisters Verleger und Drucker in der Göttinger Lokalzeitung, dass dort am Verlagsort verbliebe, was bei der Produktion von Grassbüchern so abfällt: Umschlagentwürfe, Satzarbeiten, Korrekturfahnen. Dazu kämen dann noch ein paar Skulpturen und Grafiken, fertig ist das neue Grass-Haus, künftiges Zentrum und Zierde der Grassstadt Göttingen.

    Inzwischen lohnt es sich, einmal durchzuzählen: Die Akademie der Künste in Berlin betreibt ein Grass-Archiv. Die Günter-Grass-Stiftung in Bremen unterhält eine rezeptionsgeschichtliche Forschungsstelle mit audiovisuellem Schwerpunkt. Und das stolze Grass-Haus der Grassstadt Lübeck ist gleich alles in einem: Museum, Sammlung, Dokumentation, Veranstaltungsort, unten ein Grass-Shop für Fanartikel: vom Grass-Lineal aus der Produktlinie "es gibt sie noch, die guten Dinge" bis zur Originalgrafik alles da, und oben im Dach das Grass-Stübchen mit Sekretariat: Der Dichter ist anwesend.

    Grass ist bei uns, wie es kein deutscher Dichter je war. Ein Autor, der Themen setzt wie kein zweiter, und dessen ebenso bedächtige wie insistierende Einreden zur Tagespolitik in Interviews und Statements auf unvergleichliche Art immer beides sind: Tagespolitik u n d Literatur. Das ist alles "Werk", unmöglich, das eine vom andern zu trennen. Sein Urheber kann es stolz betrachten, und schön zu sehen ist, wie der Hang zur Übellaunigkeit wegen schlechter Kritikernoten in der Werkabteilung "Literatur" inzwischen einer fast leichtfüßig zu nennenden Altersheiterkeit gewichen ist: "Letzte Tänze" heißt der Grass für diesen Herbst.

    Und jetzt die Nachricht vom neuen, dem dann vierten Grass-Archiv. Bang ahnt man, dass nach Göttingen noch lange nicht Schluss ist. Wird sich der Flecken Behlendorf, der tatsächliche Spätwohnsitz unseres Nobel-Schriftstellers, die Gelegenheit entgehen lassen, mit einem Grass-Museum seinen Platz in der Literaturgeschichte zu behaupten? Was mit den Grass-Adressen in Berlin, Paris, Kalkutta? Was mit dem portugiesischen Ferien- und Töpferhaus? - Bei Wolfgang Goethe, den anderen deutschen Großschriftsteller, kommen wir mit zwei Goethehäusern doch ganz gut zurecht. Vier Grass-Häuser und das zu Lebzeiten und dereinst womöglich mehr und das Danziger Denkmal obendrein: Hier drohen Auswüchse ins Museal-Archivalische, vor denen wir den großen Mahner ausnahmsweise und mit allem Respekt einmal zurückmahnen wollen: Der Hang zum Haus macht schwere Beine: gar nicht gut für späte Tänzer.

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