Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Graubünden
Auf Kirchners Spuren durch Davos

Nackt in der Natur herumrennen, laut Musik hören und vor allem malen und zeichnen: Als der Künstler Ernst Ludwig Kirchner 1918 Morphium krank nach Davos kam, mischte er die ländliche Umgebung mit seinem Lebensstil gehörig auf. Noch heute kann man auf Wanderwegen seinen Spuren folgen.

Von Joachim Dresdner | 20.10.2019
Haus in den Lärchen in Davos.
Die Hütte war für Kirchner eine Idylle - auch wenn die Älpler den Künstler nicht ganz ernst nahmen (Joachim Dresdner / Deutschlandradio)
Nervenschwach und Morphium abhängig kam der Künstler 1918 aus dem Weltkriegsdeutschland in die neutrale Schweiz. Kirchner erinnert sich, dass er "todkrank von Berlin nach Graubünden kam, dort Gastfreundschaft und freundliche Pflege fand, um gesund zu werden oder zu sterben."
Es duftet nach frisch geschnittenem Holz, frischen Gräsern und Bergwasser. Lange bevor der Verkehrslärm einsetzt, hallt der Gesang der Amseln durch das Tal. Ein Spazier- und Radweg führt entlang des Landwassers. Er verbindet das Zentrum von Davos mit dem Ortsteil Frauenkirch. Frauenkirch erinnert noch heute an eine typische Walser Streusiedlung. Trotz weniger Einwohner besitzt der Ort eine Kirche, einen Bahnhof und eine Primarschule. Über der Tür am Portal des Schulgebäudes sehe ich Kirchners Schnitzerei von 1936. Eine Kopie. Das blau-rote Relief zeigt fünf Köpfe: In der Mitte, mit Schnurbart und Schulheft, der Lehrer Florian Bätschi. Links zwei Jungen, rechts zwei Mädchen.
Seit 1918 "in den Lärchen"
Zu Ernst Ludwig Kirchners Zeiten wurden sie getrennt unterrichtet. Heute sitzen die rund 30 Mädchen und Jungen gemeinsam in einer der ersten bis sechsten Klassen. Im Moment aber hocken sie gut gelaunt auf den Eingangsstufen.
Ernst Ludwig Kirchner-Museum in Davos.
Das Kirchner-Museum in Davos erinnert an den Künstler (Joachim Dresdner / Deutschlandradio)
Dort holt mich Beat Däscher ab, ein graubärtiger Landwirt und langjähriger Skilehrer. Seine treuen Gäste kommen unter anderem aus Japan, Nord- und Südamerika, Europa, aus Russland und China. Von Frauenkirch fährt mich der 70jährige, virtuos lenkend, mit seinem Auto auf einem sehr schmalen Waldweg.
"Das Auto kennt den Weg" hinauf zur Stafelalp. Unterwegs erfahre ich, dass Beat Däschers Großvater mütterlicherseits in Frauenkirch aufgewachsen sei. Und zwar in dem von Kirchner bis 1923 bewohnten "Haus in den Lärchen". Dazu die App:
"In der kleinen Hofgruppe ‚In den Lärchen‘ in Frauenkirch mietete Ernst Ludwig ab September 1918 ein Haus. Es war ein altes Walserhaus, also ein historisches Blockhaus.
Nackedeis auf der Alm
Nach einer Hochzeit sei - wie wir das heute nennen würden - "Eigenbedarf" angemeldet worden.
Raum für die neue Familie, für Helfer in der Landwirtschaft, wurde gebraucht. Vieles war Handarbeit: Heu machen, Holz schlagen, und im Winter die Kühe versorgen. Kirchner musste also umziehen. Doch zuvor, um 1921, sorgten er, seine Lebensgefährtin Erna Schilling und die Tänzerin Nina Hardt, für Aufsehen, schmunzelt Beat Däscher:
"Da er die Nackedeis hier oben hatte, und dann haben die gesagt, mancher Bauer zur Frau, unten im Tal gesagt, ich habe eine kranke Kuh, damit er früher hoch gehen konnte und das hatte die Runde gemacht, was da auf der Stafelalp abgeht."
Kirchner faszinierten Bewegungen. Er fand es "anregend und reizvoll, diese Körperbewegungen zu zeichnen". Ausdruckstänzerinnen wie Gret Palucca oder Nina Hardt lud er ein, um ihnen zuzusehen. Ein Foto, das Kirchner mit seiner Plattenkamera machte, öffnet den Blick von oberhalb auf seine Hütte. Am Brunnen vor dem Haus Nina Hardt, dahinter Erna Schilling auf dem schmalen, Holzbalkon. Beide nackt.
Erholung und Sommeridylle
Was bei den Bauern Aufsehen erregte, war für Kirchner Kunst. Die Älpler, sagt Beat Däscher, hätten ihn nicht ganz ernst genommen, doch sich gegenseitig akzeptiert.
Die Hütte auf 1.800 Meter Höhe sei sommers für den Expressionisten Erholung und Idylle gewesen. Er habe auf der Stafelalp viel gemalt, gezeichnet und geschnitzt. Mit Beat schaue ich auf das Tal und den gegenüberliegenden Berghang.
Haus Wildboden, Davos
Das zweite Domizil Kirchners in Davos: Haus Wildboden (Joachim Dresdner / Deutschlandradio )
"Dort unten sieht man jetzt den ‚Wildboden‘, das Haus links vom Tal, Sertigtal, oben Clavadel. Das Einzelne dort links vom Tal, das war dort war dann am Schluss. Das war die Hütte, in der er sich aufgehalten hat. Das Mobiliar da, das ist noch dasselbe wie zu der Zeit. Der Tisch, da hat er gewirkt, hier drin. Es ist eng, klein, aber das ist speziell und das spezielle hier, wir haben hier kein fließendes Wasser, Plumpsklo und so weiter. Im Winter ist das eingeschneit!"
Kirchner beschallt die Berge
Mit Pferd und Wagen brachten die Bauern Kirchner das erste Grammophon auf die Stafelalp. Damit beschallte er an den Wochenenden abends seine Umgebung. "Das war so eine Kiste das und dann die Nadel drauf und dann ging das Rauschen los."
Die Schallplatten lagerten bei Beat bis sich ein Kurator im Kirchner-Museum fragte, was für Musik Kirchner auf der Alp wohl abgespielt habe. Klassische Stücke, oder Volkslieder? Auf einem Foto sind tanzende Bauern und; am Rande stehend; Kirchner zu sehen. 1924 malte Kirchner "Handorgelspieler in Mondnacht". Die Handorgel ist ein wichtiges Instrument in der Schweizer Volksmusik.
Schmerzlicher Umzug
"Im September 1923 zogen wir auf den Wildboden, ein Plateau am Eingang zum Sertigtal." Von Baet Däscher habe ich mich verabschiedet und bin nun mit Linda Herzog unterwegs. Die Kunstvermittlerin vom Davoser Ernst Ludwig Kirchner Museum, eine zierliche Frau mit grauem Zopf, deutet hier, vor dem "Haus in den Lärchen" Kirchners Gemälde vom "Schwarzen Frühling".
"Und der schwarze Frühling, der besagt, dass sie aus diesem Hause ausziehen mussten. Und diese Aussicht, also von diesem Haus hier, in dem er sich bekanntlich sehr wohl fühlte, ausziehen musste, das war schwierig. Und wenn man hier die Aussicht sieht: Da das Tinzenhorn, gegenüber sozusagen das Jakobshorn, das ganze Bergpanorama, das ist eine wunderschöne Aussicht!"
Ins Landwassertal, zur Stafelalp, hinüber und nach Frauenkirch, in der anderen Richtung bis nach Davos.
Das Innere der Kirchner-Hütte auf der Stafelalp.
Die originale Einrichtung hat sich erhalten: Kirchner-Hütte auf der Stafelalp (Joachim Dresdner / Deutschlandradio)
Dort, etwas abseits, auf dem "Wildboden", einem Plateau am Eingang des Sertigtals verbrachte Kirchner seine letzten Lebensjahre. Linda Herzog und ich kraxeln die Hangwiese zu dem dunklen Walserhaus hinauf. Unzählige Lupinen am unteren Sertigtal sind auf Kirchners Werken. Doch ein Wanderer war er nicht. Die blühende Pracht mit Enzian, Alpenmargerite, und Vergissmeinnicht, oben auf dem Weg vom Jakobshorn zum Sertig Dörfli, die hat er nie gesehen. Seine Blicke waren auf das Landwassertal gerichtet. Und abends wurde dann, auch in seinem Haus "Wildboden", gefeiert, Musik gehört und getanzt. Gret Palucca kam zu Besuch. "Anfang der 1930er Jahren, als die kubanische Rumba-Begeisterung Europa erreichte", ließ sich Kirchner Rumba-Platten schicken, las ich in einer Information des Davoser Museums von 2015.
Aus der Hütte heraus die Kunst revolutionieren
Vor dem Haus "Wildboden" nutzt Linda ihre mitgebrachten Fotos, um zu erklären:
"Hier der wunderschöne Garten, da wo die Bettdecke aus dem Fenster gehangen hat, das war übrigens Kirchners Zimmer!"
Erna Kirchner, die sich - obwohl nicht verheiratet - so nennen durfte und richtig Erna Schilling hieß, bewohnte das Untergeschoss. Von hier aus wollte Kirchner die Kunst revolutionieren?
"Und hier in einem Bauerndorf, da war die Revolution der Kunst jetzt nicht das Thema Nummer Eins. Nacktheit, Natur, rumrennen, zeichnen, wo es geht. Skulpturen aus Holz, die von Kraft und Nacktheit strotzen? Nee, das kannte man hier so nicht."
Selbstmord in den Wiesen
Davoser Laientheaterfreunde baten ihn um Bühnenbilder. An Theaterproduktionen soll er mitgewirkt haben. Er hatte eine erfolgreiche Ausstellung in Detroit, die später in New York gezeigt wurde. Dennoch ging der 58jährige eines Morgens im Juni 1938 hinaus in die Wiesen, und am Hang zwischen den üppigen Alpenblumen schoss er sich tot. "Hier ging er dann hoch und der eine Bauernhof, die hatten keine Telefon da oben. Da ist die Erna Schilling morgens hoch und der Kirchner ist ihr dann nachgerannt. Die hatten Riesenstreit dann da bei diesem Bauern, da ist er ‘raus und hat sich umgebracht. Man hat zwei Schüsse gehört." Die zwei Schüsse ins Herz. Am 18. Juni 1938 war die Beerdigung auf dem Waldfriedhof Davos. Auf der App höre ich:
"Wie ich mir habe sagen lassen, zählt der Waldfriedhof Davos auf dem Wildboden zu den schönsten Friedhöfen der Schweiz." "Da unten ist der Waldfriedhof." Die Grabsteine von Ernst Ludwig und Erna Kirchner stehen nebeneinander. Im Halbrund davor sind Blumen gepflanzt.