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Graue Mäuse statt mündige Bürger

Zwischen Repression, Anpassung und Widerstand blieb für DDR-Bürger nicht viel Freiraum - eine Schlussfolgerung der Tagung "Schöner Schein und Wirklichkeit" in Berlin. Wissenschaftler und Zeitzeugen debattierten, wie wie ein politisches System sich über 40 Jahre lang halten konnte, obwohl seine hoch gehaltenen Ideale in krassem Widerspruch zur Realität standen.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 08.11.2012
    " ... und ihr Erziehungsziel ist gewesen: graue Mäuse. Alle sollten dasselbe lieben, dasselbe anstreben, dasselbe haben wollen: dieselbe Schrankwand, dasselbe Auto, dieselben Jeans. ... Und wir haben ja sogar – zumindest scheinbar – mitgemacht. … 95 Prozent unserer Jugendlichen waren in der – haben sie selber stolz gesagt – in der Reserve der Partei – und damit meinten sie die SED."

    Rainer Eppelmann, Pfarrer und Bürgerrechtler, später Politiker, ist in seiner Wohnung in der DDR abgehört worden. Was nicht für die Ohren der Herrschenden bestimmt war, besprach er deshalb beim Spaziergang. Gemeinsam mit Hans-Georg Aschenbach erzählt er vom Leben in der Diktatur. Anders als Eppelmann hatte der Skisprung-Olympiasieger trotz seiner Privilegien die Enge im sozialistischen Staat nicht mehr ausgehalten und war 1988 geflohen.

    "Wir sind von Anfang an, von der Geburt bis zum Tod, mit Angst aufgewachsen. In Angst und Schrecken. Und das hat eigentlich unser System geprägt. Wir sind da mit einem Glanz und Gloria, mit einem Gesang durch die Lippen auf den Straßen marschiert, aber jeder hatte vor jedem Angst. Und dass ich dann noch sagen muss: Das war vielleicht doch irgendwo gut, nein, das war überhaupt nicht gut. … Selbst die Genossen: Unter sich haben sie mit Angst und Schrecken regiert."

    "Schöner Schein und Wirklichkeit" - auf der Tagung in Berlin stand die Frage im Mittelpunkt, wie ein politisches System sich über 40 Jahre lang halten konnte, obwohl seine hoch gehaltenen Ideale in krassem Widerspruch zur Realität standen.

    Um darauf eine Antwort zu finden, versuchten die Wissenschaftler und Zeitzeugen, dem Wechselspiel zwischen Machtapparat und Bevölkerung auf die Schliche zu kommen. So legten sie noch einmal detailliert die Machtstrukturen offen, die jeden gesellschaftlichen Bereich von der Schule und dem Militär über das künstlerische Leben bis hin zum Privatleben bestimmten. Zu diesem Zweck kamen Kontrollinstrumente zum Einsatz wie das Arbeitsbuch, das den individuellen Ausbildungs- und Berufsweg nachzeichnete oder das Hausbuch mit den ein- und ausgehenden Besuchern.
    Entscheidend aber war, und damit spitzten die Experten das Thema zu: Wie hat die Bevölkerung auf die extreme Kontrolle reagiert? Inwiefern beschreiben die Extreme Anpassung und Widerstand zutreffend das Verhalten der Menschen? Der Theologe und Oppositionsforscher Ehrhart Neubert beschreibt den Mauerbau als Zäsur für die DDR-Bürger.

    "Die Leute haben quasi einen Status quo gefunden, wie man in dieser Diktatur lebt, ohne ständig anzuecken. Und umgekehrt haben die Herrschenden gesagt: Wenn die ruhig sind, wenn sie so tun oder sagen, dass sie mit uns einverstanden sind, dann brauchen wir nicht weitere repressive Maßnahmen gegen sie zu ergreifen. Das ist eigentlich das ganze Geheimnis nach dem Mauerbau, nach 1961."

    Konformität sei sozialpsychologisch das Normale, lautete der Tenor der Veranstaltung. Sogar vom Recht auf Anpassung war die Rede. Aussteigen und opponieren habe dagegen eine große Anstrengung erfordert: eine klare ethische Entscheidung sowie die passende Gelegenheit.

    Dabei unterschieden sich die individuellen Einstellungen und das Verhalten sehr. Frühere Oppositionelle berichteten, sie hätten sich die DDR damals nicht weg, sondern anders gewünscht. Andere verdrängten den Diktaturcharakter und die Verletzung von Menschenrechten. Millionen reisten bis 1989 aus.

    Ehrhart Neubert interessiert besonders, wie die Menschen im Alltag auf das unkalkulierbare "Zuckerbrot- und- Peitsche"-Spiel der Herrscher reagierten. Drei Typen von Verhaltensweisen unterscheidet er. Am häufigsten sei der "Händler" gewesen:

    "Ich bin still, zeige mich offiziell loyal oder einverstanden, verzichte auf öffentliche Kritik. Und dafür habe ich mehr Handlungsspielräume. Ich hab ein paar mehr Vorteile, ich werde nicht dauernd von irgendjemandem belästigt und nicht unter Druck gesetzt."

    Dieser entpolitisierte Typus war bequem für die Partei und ihre Organisationen. Der Deal zwischen Herrschern und Beherrschten habe erstaunliche Formen angenommen, erzählt der Theologe: Manche DDR-Bürger ließen sich ihre Teilnahme an der Wahl mit Fußboden-Dielen, einem Telefon oder einer Reiseerlaubnis vergelten. Ein Deal, der so in den 50er Jahren nicht denkbar gewesen sei, als die DDR noch drakonischer gegen Regimekritiker vorging.

    Typ Nummer zwei, der Moralist, habe mehr an der Lüge über die Realität als an dieser selbst gelitten. Der eine schwieg, der andere rettete sich in gleichgesinnte soziale Mileus wie die Kirchengemeinde oder die Familie. Manche seien ausgereist oder opponierten.

    Anders der Typ Nummer drei, der Utopist ...

    " ... der dann zwar alles glaubt, was die Partei ist, aber die Wirklichkeit ist nicht so. Und so hofft er, dass vielleicht in späterer Zeit – er überspannt dieses Problem – irgendwann kommt das mal zum Ziel. Oder vielleicht ist die Aufgabe so groß, und ich bin nur so klein. Ich muss halt noch warten."

    Die Utopisten, darunter Schriftsteller und Intellektuelle, fanden eine tröstliche Erklärung für das Auseinanderklaffen zwischen sozialistischem Ideal und Alltag. Noch befinde die DDR sich auf dem Weg zur neuen Gesellschaft und habe mit Problemen des Übergangs zu kämpfen.

    Die Bindekräfte ans System waren allerdings stärker als gedacht, betonen die Wissenschaftler. Überraschend groß sei die Zahl freiwilliger Informanten gewesen, die nicht zur Stasi zählten. Fast über jeden zweiten DDR-Bürger existiere ein kleines Stasi-Dossier, erzählt Christian Booß, Projektkoordinator beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Die Informationen darin stammen aus der Bevölkerung: So erzählten Betriebsleiter, sogenannte Hausbuch-Führer oder Abschnittsbevollmächtigte der Polizei, ob ihr Nachbar Westbesuch empfängt, trinkt, und wie er mit seiner Frau umgeht.

    "Wenn sie als freiwilliger Helfer der Volkspolizei, und davon gab es immerhin 173.000, das sind ungefähr genauso viel wie die IM, wenn sie da jeden zweiten, dritten Abend in der Gegend rumlaufen, mit oder ohne rote Armbinde, hinterher einen Bericht schreiben, auf Schulungen gehen, den ABV, also den Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei kontaktieren, dann müssen sie ja auch erhebliche Zeit dafür aufwenden. Und das machen sie nicht einfach aus Opportunismus. Aus Opportunismus klatschen sie vielleicht mal auf einer Betriebsversammlung an der richtigen Stelle Beifall oder halten an der richtigen Stelle die Klappe."

    Aber warum waren so viele Helfer im freiwilligen Überwachungseinsatz für den Staat? Belohnt wurden die einen mit einem "warmen Händedruck", einer Urkunde, ein bisschen Geld, die anderen mit Vorteilen auf dem beruflichen Weg. Manchen wiederum ging es darum, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen und beim Streifegehen in den Kleingärten nicht nur nach Einbrechern Ausschau zu halten. Eine nicht zu unterschätzende Zahl von Parteirentnern habe eine Art Ehrendienst leisten wollen, erzählt Christian Booß – wenn auch nur als kleines Rädchen im Getriebe des brüchigen Systems:

    "Aber dennoch hat man sie soweit spüren lassen, dass sie das Gefühl zumindest dann hatten, einer Wichtigkeit – und das ist ja der Kern von Loyalität. Loyalität heißt ja nicht gekaufte Loyalität, sondern heißt Loyalität aufgrund einer gewissen Überzeugung. Und das hat die SED bei bestimmten Leuten nicht ungeschickt hingekriegt. Das haben wir möglicherweise in den letzten Jahren ein bisschen übersehen. Und das erklärt ja auch, warum sich bis heute Leute diesem System so verbunden fühlen."