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Grelle Satiren

"Was darf die Satire?" fragte vor Jahrzehnten Kurt Tucholsky, um sich gleich darauf selbst die Antwort zu geben: "Alles." Tucholsky meinte damit, dass der Satire keine politischen oder moralischen Fesseln angelegt werden dürfen, wenn sie ihrem Charakter gerecht werden will: dem einer spöttischen Übertreibungskunst.

Von Jan Koneffke | 01.03.2010
    Der bulgarische Schriftsteller Alek Popov, der bereits mit seinen Romanen "Mission: London" und "Die Hunde fliegen tief" auch in Deutschland Furore machte, wird gerne als "Satiriker des Balkans" bezeichnet – doch der Begriff "spöttische Übertreibungskunst" wirkt in Bezug auf Popov eher untertrieben.

    Popovs neuestes Buch, die von Alexander Sitzmann gekonnt ins Deutsche gebrachte Short-Story-Sammlung "Für Fortgeschrittene", beweist es: Denn grellere, makabrere, absurdere, galligere und groteskere Satiren als die, die Alek Popov hier in einer Auswahl aus seinem Erzählwerk der vergangenen zwanzig Jahre vorlegt, dürfte man selten gelesen haben. Das ist in der Tat Literatur "für Fortgeschrittene". Nicht, weil diese Texte maßlos kompliziert wären. Im Gegenteil, sie sind überaus leicht und flüssig zu lesen. Sondern, weil man schon einigermaßen hart gesotten sein muss, um sie genießen zu können.

    Schon die erste Geschichte "Russisches E-Mail" eilt, in kalkulierter Nonchalance, auf ihre grausige Pointe zu. Die zufällige Bekanntschaft eines verheirateten Bulgaren mit einer jungen, unbekannten Moskauerin im World Wide Web, entwickelt sich zu einer elektronischen Liebesaffäre, die zwar keineswegs platonisch, aber immerhin doch virtuell bleibt, bis die Russin ihren Besuch in Sofia ankündigt. Wer in Sofia eintrifft, ist aber ein Mann, der sich zunächst als Vater der angeblich noch Minderjährigen ausgibt, später jedoch sich als ihr Ehemann erweist, der seiner Frau auf die Schliche gekommen ist, und dem virtuellen Liebhaber eine Pappschachtel hinterlässt: "Ich nehme an, dass sie der Gedanke quält, ob sie wirklich die Frau auf dem Foto ist, das sie Ihnen geschickt hat. Ich schlage vor, dass Sie die Schachtel im Kühlschrank öffnen. Überzeugen Sie sich selbst."

    Schwärzerer Humor war nie. Wen sollte es da noch wundern, dass wenige Seiten später in einer bulgarischen Zeitung die Dienstleistung des Enthauptens angeboten wird. In der titelgebenden Erzählung "Für Fortgeschrittene" hingegen steckt die schwächste Teilnehmerin eines Englisch-Sprachkurses alle anderen Kursteilnehmer mit ihrer falschen Aussprache an. Da aber hervorragende Englischkenntnisse in der neuen freien Welt das Rezept für beruflichen Erfolg sind, ist es nicht besonders erstaunlich, dass sie als Mordopfer endet. Wobei es schon ganz egal ist, wer sie wirklich aus dem Weg geräumt hat. Und ebenso wenig erstaunt, wenn in der Geschichte "Der Unabhängigkeitstag", die – natürlich satirisch – von den bulgarischen Hungerzeiten nach der Wende handelt, die Eltern des Erzählers ernsthafte Anstalten machen, den Großvater zu töten, um ihn aufzuessen und damit dem sicheren Hungertod zu entgehen.

    Erstaunlich also sind solche Wendungen kaum noch, wenn man die ersten zehn Erzählungen von Alek Popov gelesen hat – frappierend, schockierend, absurd und makaber sind sie allemal. Nicht nur die mal törichten, mal aufrichtigen, mal schelmischen und mal kindlich entsetzten Erzähler Popovs halten den Leser bei der Stange. Auch seine kraftvolle Sprache tut es mit ihrer immer wieder verblüffender Anschaulichkeit: Da glühen die Ohren vor Scham "wie eine Heizspirale", ist jemand "reich an Läusen wie an Geld" oder besagte falsche Englisch-Aussprache "ansteckend wie eine Darmgrippe." Denn der kluge Autor hinter den nicht immer klugen Erzählern weiß, dass einem das Lachen nur vergehen kann, wenn man zuvor gelacht hat.

    Dass Popovs satirische Horrorszenarien nicht abstürzen, liegt vor allem daran, dass ihnen horrende Erfahrungen zugrunde liegen. Erfahrungen tiefer, menschlicher und gesellschaftlicher Erschütterung. Im Szenarium der falschen, prästabilierten Disharmonie, mit der sich Machthaber und Oppositionsführer Macht und Einfluss teilen, wie in der Erzählung "Auf nach Syrakus!", die von der falschen, bulgarischen Demokratie nach der Wende von `89 handelt, schießt diese Erschütterung und Desillusionierung zu einem Geschichtsbild der "Ewigen Wiederkehr des Schlechten" zusammen. Dazu der Autor:

    "Diese Erzählung habe ich den 90er-Jahren geschrieben und das war die Zeit der Wende und Transformation. Aber sie gibt keine Antwort. In der Zeit, in der diese Erzählung geschrieben worden ist, hat es keine Antworten gegeben. Im Großen und Ganzen sieht man eine Situation, die blockiert ist, keinen Ausweg hat. Wo auch die Revolution kein Ausweg ist. Der einzige Ausweg findet sich in den Menschen selbst. Und wie sich zum Schluss auch herausgestellt hat, ist der innere Mensch der einzige Ausweg aus dieser blockierten Situation der Gesellschaft. Diese Erzählung ist postmodern, darin gibt es sogar eine Figur, die ich Kafka entlehnt habe, nämlich den 'Hungerkünstler'. Andererseits gibt es in dieser Erzählung auch sehr traditionelle Figuren für die bulgarische Literatur, wie die alte Frau Ilitza, die ein Symbol für die bulgarische Nationalliteratur ist, eine sehr patriotische Figur. Alles ist auf den Kopf gestellt in dieser Erzählung."

    Es sind aber nicht eigentlich Popovs Erzählungen, die die Verhältnisse auf den Kopf stellen, sondern die Verhältnisse selber stehen kopf. Und der Autor verzerrt satirisch die kopfstehenden Verhältnisse zur Kenntlichkeit. Wie zum Beispiel in der Geschichte "Auf der Insel der Koprophagen", in der der Westen dem Osten buchstäblich Scheiße liefert, um damit die hungrigen Massen zu füttern, was zu ungeahnten Folgen im Osten wie im Westen führt. Denn während der Osten sich kulturell verfeinert, verwandelt sich "die zivilisierte Welt in eine gigantische Ausscheidungsindustrie."
    "Auch diese Geschichte habe ich Anfang der 90er-Jahre geschrieben. Es hat sich herausgestellt, dass diese Erzählung sehr langlebig ist, leider Gottes. Alles ist darin schematisch dargestellt, wie in jeder Satire, es ist die meistübersetzte Erzählung, und sie erscheint auch unter verschiedenen Titeln. Auf Bulgarisch heißt sie: 'Die metabolischen Menschen', auf Englisch: 'Shit giving'."

    Auch die groteske Überspitzung und Verkehrung des Mythos vom rettenden Westen funktioniert nur deshalb, weil der Mythos von jeher verkehrt war. Den rettenden Westen, den der Autor gut kennt, war er doch einige Jahre Kulturattaché seines Landes in Großbritannien, hat es kaum gegeben – westliche Interessen im Osten umso mehr.

    Was dann aber wirklich für die Erzählsammlung Popovs einnimmt, sind die zwischen die grellen Satiren eingestreuten stilleren Texte, wie etwa die Geschichte des bei einer Bombenexplosion ums Leben gekommenen Übersetzers Simic, die mit den wunderbaren Sätzen anhebt: "Ich bin von seiner Existenz noch nie überzeugt gewesen, genauso wenig wie von der Existenz der übrigen Welt. ... Ich bin das Gefühl nie losgeworden, dass mit meinem Tod die ganze Welt mit mir zusammen verschwinden wird." Oder poetischere, sogar optimistische, Erzählungen wie die von den "anderen Lichtern". Auf hunderten trostloser Wohnblockdächer einer Sofioter Schlafstadt kommunizieren die Menschen mit Lichtsignalen ihrer Taschenlampen. "Auf jedem Dach blinkte eine Lampe – hunderte, tausende flackernder kleiner Lichter. Ganze Sternbilder zeichneten sich vor mir ab." Popov verrät zu dieser Erzählung, die seine Geschichtensammlung abschließt:

    "Die Komposition des Bandes geht auf den Übersetzer Alexander Sitzmann zurück. Er hat darauf bestanden, dass man diese Erzählung, die schon alt ist, mit einbezieht in diese Sammlung, und wie ich das sehe, passt die Geschichte auch gut hinein. 'Die anderen Lichter' habe ich Ende der 80er geschrieben, also vor der Wende, und da gibt es auch die Vorahnung einer Veränderung. Eine Jugenderzählung sozusagen. Die erste Erzählung 'Russisches E-Mail' hingegen habe ich 15 Jahre nach der Wende verfasst, und die Sichtweise ist hier anders, besser gesagt: zynischer."
    Dass aber Popovs in der Freiheit geschriebenen Erzählungen zynischer sind als die in kommunistischer Unfreiheit geschriebenen, das sollte – über seine lesenswerte Geschichtesammlung hinaus – dann doch zu denken geben.

    Alek Popov: Für Fortgeschrittene. Erzählungen. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Residenz-Verlag 2009. 280 Seiten.