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Grenzen des Rechtsstaats

Die Anklageschrift umfasste rund 800 Seiten, die Dauer der Verhandlung vor dem Berliner Landgericht wurde auf zwei Jahre geschätzt. Bald jedoch zeigte sich, dass die Justiz mit dem Prozess gegen Erich Honecker, den ehemaligen Staats- und Parteichef der DDR, und mehrere Mitglieder des SED-Politbüros hoffnungslos überfordert war.

Von Claus Menzel | 12.11.2007
    Beabsichtigt war, was der damalige Bundesjustizminister Klaus Kinkel die "Delegitimierung der DDR" nannte, und geplant war wohl auch ein Schauprozess, der die alte These, nach der man kleine Übeltäter hängt, große aber laufen lässt, demonstrativ widerlegen sollte. Doch als am 12. November 1992, fast genau drei Jahre nach dem Mauerfall, vor der 27. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin der Prozess gegen Erich Honecker und andere Granden des DDR-Regimes begann, war die Anklage, mit der sich der ehemalige SED-Generalsekretär auseinandersetzen musste, höchst umstritten: juristisch und politisch, aber auch moralisch.

    Klar doch, dass die Strafverfolgungsbehörden in diesem Verfahren einige bislang höchst sakrosante Rechtsgrundsätze schlicht missachtet hatten. Da war zunächst das verfassungsrechtlich verankerte Rückwirkungsverbot, nach dem eine Tat nur strafbar ist, wenn ein bereits zur Tatzeit gültiges Gesetz sie für strafbar erklärt hat. Zwar verstieß der Honecker angelastete Schusswaffengebrauch an Mauer und Stacheldraht gegen elementare Menschenrechte, zugleich aber entsprach er den Gesetzen eines souveränen Staates. Überdies war im deutsch-deutschen Einigungsvertrag ausdrücklich vereinbart worden, dass für die Beurteilung von Straftaten in der DDR auch das Recht der DDR zu gelten habe. Honeckers Verteidiger, der Berliner Rechtsanwalt Nicolas Becker, widerspricht freilich der Meinung, eine große Rolle hätten traditionelle Rechtsauffassungen offenbar kaum gespielt.

    "Doch, das hat eine Rolle gespielt, insbesondere weil die Anklagebehörde und auch der Bundesgerichtshof beide behauptet haben, dass das, was ihm vorgeworfen worden ist, die Schüsse an der Mauer, dass die auch nach DDR-Recht strafbar gewesen seien. Man muss natürlich politisch sagen, dass sich die Auffassungen über diese Fragen im Laufe der letzten 50 Jahre erheblich verändert haben. Meine Meinung ist insgesamt, dass die Anklage von Honecker, dass die einen Fortschritt der Menschenrechtsstandards in Deutschland dokumentiert, wenn es auch dabei juristische Ungenauigkeiten gibt."

    Mag sein. Neben die juristischen Ungenauigkeiten traten im Honecker-Prozess freilich allerlei politische Bedenken. Dass in der DDR Verbrechen begangen worden waren, für die der Staatschef verantwortlich zu machen war, stand außer Frage. Rund fünf Jahre zuvor, im September 1987, war Honecker allerdings in Bonn mit all den Ehren empfangen worden, die dem Chef eines souveränen Staates gebühren, und in München hatte Bayerns Franz Josef Strauß zwar Kritik am rigiden und bisweilen grausamen Grenzregime der DDR geübt, zugleich aber betont:

    "Ich muss allerdings auch feststellen, dass Sie einiges getan haben, um auf diesen Gebieten Schritt für Schritt, mit Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein in Kenntnis der Grenzen, der Möglichkeiten tätig zu sein."

    Peinlich wurde es, als in- und ausländische Politiker und Publizisten bemerkten, gemessen an den Urteilen, die westdeutsche Richter in Prozessen gegen NS-Verbrecher gefällt hatten, habe Erich Honecker doch schlimmstenfalls ein paar Tage Gefängnis zu erwarten. Und noch peinlicher war es, als sich die Justiz auf einen Wettlauf mit dem Tod des Angeklagten einließ und die zuständigen Richter auf dem Prozess bestanden, obwohl Honecker, damals 80 Jahre alt, an unheilbarem Leberkrebs litt.

    "Dass man vielleicht aus pädagogischen oder politischen Gründen doch einen Prozess erst mal mit ihm durchführen wollte, darüber kann man ja reden. Ich glaube, dass die angesichts seiner Erkrankung einfach einen Fehler gemacht haben - diese riesige Anklage mit 800 Seiten zu erheben und zuzulassen. Man hätte den Prozessstoff insoweit beschränken können, dann wäre das politische Ziel, ihn auch verurteilt zu sehen, erreichbar gewesen."

    Die Justiz als Mittel zum politischen Zweck, kein Ruhmesblatt des Rechtstaats. Es war Berlins Landesverfassungsgericht, das dem grausamen Spiel ein Ende setzte und Honeckers Haftentlassung forderte. Am 13. Januar 1993 fuhr der ehemalige DDR-Chef im Panzerwagen des Bundespräsidenten zum Berliner Flughafen Tegel, von dort aus flog er ins chilenische Exil. Am 29. Mai 1994 ist Erich Honecker in Santiago seinem Krebsleiden erlegen.