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Grenzen des Sagbaren

Berechenbar ist er nicht. Die Essays und Miniaturen, die Giorgio Agamben in seinen Büchern zu großen provokanten Thesen versammelt, bewegen sich immer auf dem schmalen Grat zwischen Obskurantismus und Genialität. Die Grenzen des Sagbaren, von denen seine Philosophie manchmal handelt, exzerziert Agamben auch in seinem eigenen philosophischen Gestus durch. Dabei ist sein Denken durchdringend, verstörend und häufig gerade deswegen überzeugend.

Johan Hartle | 18.02.2004
    Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Anselm Haverkamp spricht davon, dass Giorgio Agamben heute den leeren Platz einer "pole position" der Gegenwartsphilosophie besetzen könne, der seit dem Tod Michel Foucaults unbesetzt geblieben ist. Agambens Weg in diese Spitzenposition verläuft jedoch nicht geradlinig. Zunächst bewegte sich der studierte Jurist im Milieu von Schriftstellern wie Elsa Morante, Alberto Moravia und Pier Paolo Pasolini, in dessen Film "Das erste Evangelium nach Matthäus" er auch eine Nebenrolle spielte. Später lernte er in exklusivem Rahmen Martin Heidegger kennen, als er, gemeinsam mit René Char, an den Seminaren des Meisterdenkers in der Provence teilnahm.

    In Deutschland ist sein Weg in die "pole position" der Philosophie besonders lang. Und das nicht nur, weil die Treueschwüre gegenüber der angelsächsischen Tradition analytischer Philosophie, zu der sich Agamben in Opposition begibt, hierzulande besonders laut sind. Ohnehin kam Agambens Schlüsselwerk "Homo Sacer" in Deutschland erst sieben Jahre nach der italienischen Erstveröffentlichung auf den Buchmarkt. Seitdem kann allerdings jedes neue Buch Agambens in Deutschland als ein Ereignis gelten, das die philosophische Öffentlichkeit nachhaltig mit Rätseln konfrontiert. Allein in diesem Jahr gibt es drei deutschsprachige Neuerschienungen des italienischen Philosophen: "Was von Auschwitz bleibt", "Das Offene" und "Die kommende Gemeinschaft".

    Alle Schriften Agambens kreisen um eine anthropologische und politische Theorie der Leiblichkeit. Gewissermaßen ist er – außer in seinem literarischen Verfahren – auch in seiner zentralen philosophischen Geste ein Wiedergänger Walter Benjamins, dessen Schriften er in Italien herausgegeben hat. Die philosophische Geste Walter Benjamins wiederum kennzeichnete dessen Freund und Weggefährte Theodor W. Adorno als einen "anthropologischen Materialismus", der sein "Maß der Konkretion" im "Leib des Menschen" findet.

    Leiblichkeit wird bei Agamben allerdings nicht positiv anthropologisch besetzt. Agamben kann als Denker einer negativen Anthropologie gelten, in der der Mensch vor allem als unbestimmtes Tableau historisch-politischer Einschreibungen hervortritt. Was der Mensch "wesenhaft" sei, bleibt unbeantwortet. Nicht jedoch, was historisch aus ihm gemacht wurde. Agamben spricht von einer "anthropologischen Maschine", die den Menschen definiert. Sein Anliegen ist es, sie auszuschalten und in die Freiheit einer anthropologischen Unbestimmtheit einzutreten. In "Das Offene" schreibt er:

    Der Mensch war in unserer Kultur (...) stets das Resultat einer Teilung und zugleich einer Gliederung des Animalischen und Humanen, wobei einer der beiden Begriffe jeweils auf dem Spiel stand. Die herrschende Maschine unserer Konzeptionen des Menschen abzuschalten, bedeutet also nicht, nach neuen, effizienteren und authentischeren Verbindungen zu suchen, als vielmehr, die zentrale Leere auszustellen, den Hiat, der – im Menschen – den Menschen vom Tier trennt, bedeutet also, sich in dieser Leere aufs Spiel zu setzen: Aufhebung der Aufhebung, Shabbat sowohl des Tieres als auch des Menschen.

    Diese Position entfaltet Agamben in einem immer wieder verblüffenden Kommentar zu Schriften von Carl von Linné, Augustinus, Alexandre Kojève und vor allem Martin Heidegger.

    Carl von Linné zeigte sich unsicher, eine letztgültige, "spezifische Differenz zwischen dem Mensch und dem Affen anzuzeigen." Kojève ließ die Menschen am Ende der Geschichte wieder zu Tieren werden. Mittelalterliche Theologen rätselten über die Auferstehung des Fleisches, das sie zuvor durch die definitorische Destillierung einer Seele disqualifiziert hatten. Agamben geht von dieser Unsicherheit der Trennung von Mensch und Tier aus, wenn er pointiert, dass die anthropologische Trennung von Mensch und Tier letztlich immer nur im Inneren des Menschen verlaufe. So führe sie zu einer Entkoppelung des Animalischen im Eigenen. Denn das Tier sei das immanente Andere des Menschen, das erst durch die "anthropologische Maschine" von jenem geschieden werde.

    Eine derartige Trennung des Menschlichen vom Animalischen beschreibt Agamben zufolge auch eine konstitutiv politische Tat. Denn die Polis, die politische Gemeinschaft, ist für Agamben das Resultat dieser Trennung, mit der eine souveräne Definition des Politischen auf den Plan tritt. Es ist der Mensch als zoon politikon, als buchstäblich politisches Lebewesen, das durch die "anthropologische Maschine" geschaffen wird. Und bloß ein Tier zu sein hieße dagegen, unpolitisch zu sein.

    Die Arbeit der anthropologischen Maschine mit ihrer Trennung von Mensch und Tier erscheint Agamben nun aber vor allem deswegen unplausibel, weil Biopolitik die leibliche Existenz des Menschen bereits zu einem ersten politischen Einsatz werden lässt. Politik beginnt nun, in die animalischen Grundlagen des menschlichen Daseins hinabzureichen. Wo gentechnologisch, gesundheitspolitisch, bevölkerungspolitisch oder im Extremfall totalitärer Menschenversuche Politik eben auf den Leib geht, da wird der Mensch gewissermaßen als Tier und nicht mehr nur als Mensch zum politischen Lebewesen. Es ist dieser Horizont einer großen anthropologischen Verunsicherung, die mit der Biopolitik einsetzt, vor dem sich Agambens Denken erklären lässt.

    Als zeitgeschichtliche Verunsicherung im Konzept des Menschen rückt Auschwitz ins Zentrum seiner zweiten deutschsprachigen Neuerscheinung. In Was von Auschwitz bleibt geht seine anthropologische Theorie allerdings von einer Theorie des Eingedenkens aus. Sie stellt dabei die Frage, in wessen Namen Auschwitz zu erinnern wäre. Zentral habe es, so insistiert Agamben, im Eingedenken darum zu gehen, von den namen- und sprachlosen Schicksalen Zeugnis abzulegen und diejenigen zu erinnern, die keine Sprache mehr haben, denen sie geraubt wurde und die aus der symbolischen Ordnung der historiographischen Rede schlichtweg ausgeschlossen sind. Die allegorische Figur für solches Verstummen ist der "Muselmann" in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, dem die Lagerbedingungen aus Folter, Zwangsarbeit und Unterernährung buchstäblich den Verstand geraubt und die Sprache verschlagen haben. Wie wäre nun aber an ihn, der kein Zeugnis mehr ablegen kann, zu erinnern?

    Agambens Theorie des Eingedenkens verknüpft sich mit dem Projekt einer negativen Anthropologie. Denn am Beispiel des Muselmanns spitzt sich für Agamben die Frage zu, die seit Primo Levis Buchtitel untrennbar mit der Erinnerung an Auschwitz verbunden ist: Ist das ein Mensch?

    In scharfer Gegenthese zu allen Philosophien, die von der Würde des Menschen, vom Menschen als sprechendem Wesen oder als animal rationale ausgehen, pointiert Agamben den Muselmann als sprachloses Wesen, das jeden Ausdruck, jede Würde und jeden Stolz verloren hat. Weil der Muselmann aber alle idealistischen Begriffe des Menschseins unterläuft, ist er Lebender und Toter, Mensch und Nicht-Mensch zugleich. Im Zeugnis, das die Erinnerung an diese menschliche Grenzgestalt in bewusster Spannung zum Nichtdokumentierbaren hochhält, wird damit auch an die Grenze des Humanismus herangedacht. Insofern steht das Zeugnis des Muselmanns nicht nur für eine Praxis des Eingedenkens an die Schrecken der vollständigen Entmenschlichung, sondern auch für ein anthropologisches Verfahren. Es stellt keine bloße Abkehr vom hehren Menschentum des Humanismus dar, sondern treibt es an die Grenze. Agamben pointiert es folgendermaßen:

    Hier wird offenkundig, warum die beiden konträren Thesen über Auschwitz unzulänglich sind – die humanistische "Alle Menschen sind menschlich" ebenso wie die antihumanistische "Nur einige Menschen sind menschlich". Das Zeugnis sagt etwas ganz anderes. Es ließe sich in der These zusammenfassen: "Die Menschen sind Menschen, insofern sie nicht-menschlich sind" – genauer: "Die Menschen sind Menschen, insofern sie Zeugnis ablegen vom Nicht-Menschen.

    Wie diese Worte deutlich machen, ist es Agamben um eine anthropologische Theorie zu tun, die an die Grenzen des Humanismus geht, ohne ihn zu suspendieren – und die sich dabei gegen die Tendenz verwehrt, exklusiven Diskursgemeinschaften nachträglich noch die Würde der einzig Menschlichen anzudichten. Die Gemeinschaft der sprechenden und vernunftbegabten Wesen wird erweitert. Eine historische Semiologie der Leiblichkeit öffnet die Grenzen eines Humanismus des homo loquens.
    Welche politischen Konsequenzen eine solche Anthropologie im Bereich des ungeborenen Lebens, der Sterbehilfe oder der Gen-Technik hätte, lässt Agamben offen. Vermutlich verspricht er sich die Antworten jedoch von einer spezifischen Form der politischen Artikulation, die er in der anderen Neuerscheinung dieses Jahres skizziert.

    Der verheißungsvolle Titel Die kommende Gemeinschaft macht darin von Anbeginn deutlich, dass die Ansammlung von teils kryptischen Notizen und Kommentaren Teil eines groß angelegten politischen Programms ist. Theologisch-messianische Rhetorik verleiht dem Projekt zusätzliche Emphase. Auch diese Verheißung geht auf den Körper. Schon deshalb steht sie im engeren konzeptuellen Zusammenhang mit Das Offene und Was von Auschwitz bleibt. Um nicht weniger als um eine Theorie politischer Kommunikation, die in leiblicher Praxis gründet, ist es ihm darin zu tun.

    Die politische Utopie der kommenden Gemeinschaft erscheint in Gestalt einer Theorie des sprachlichen und gestisch-körperlichen Ausdrucks. Körper werden dabei gleichsam als Hüllen, Masken und Rollen vorgestellt, in die es allerdings mit Nachdruck einzuziehen gilt. Die leibliche "Hülle" selbst begreift Agamben als ein Medium von Kommunikation und Gemeinsamkeit. Die klassische Hierarchie von Innen und Außen wird zur Äußerlichkeit des leiblichen Daseins aufgehoben. Einmal ist vom "ursprünglichen Manierismus des Seins" die Rede. "Uneigentlichkeit" ist eine zweite Schlüsselvokabel. Solche und ähnliche Formulierungen skizzieren das Projekt einer Theatralisierung der Körper, auf die sich eine neue Gemeinschaft zu stützen hätte. So sucht Agamben in der Äußerlichkeit von Zeichen und Gesten ein neues Ethos. Es ist das Ethos einer Gemeinschaft der Leiber, über den es heißt:

    Dieser freie Gebrauch des Seins, der keineswegs einschließt, dass über die Existenz wie über ein Eigentum verfügt werden könnte, wird einem wohl nur verständlich, wenn man ihn als Habitus und Ethos denkt. (...) Ethisch ist Manier, die uns weder zustößt noch begründet, sondern hervorbringt. Von seiner eigenen Seinsweise hervorgebracht zu werden, ist das einzige Glück, dessen sich die Menschen versichern können. (...) Die Uneigentlichkeit, die wir als unser eigenstes Sein zur Schau stellen, die Manier, die wir gebrauchen, bringt uns hervor; sie ist unsere zweite glücklichere Natur.

    Diese zweite Haut einer zweiten Natur präsentiert sich dabei auch als eine Interpretation und Reformulierung der ersten Natur, der sich Agambens anthropologische Ausgangsfrage widmet. Als Medium von Gesten und als erweiterter Raum der Mitteilbarkeit bildet die leibliche Existenz das Fundament einer kommenden Gemeinschaft. Weil sie als zweite Natur potentiell veränderbar, selbstbestimmt ist, ist sie in einer Unbestimmtheitszone zuhause. Es ist dieselbe Unbestimmtheitszone, die Agamben eröffnet, indem er die "anthropologische Maschine" abschaltet. Sie ist das Spielfeld eines neuen ethischen Daseins. Allerdings ist jene Unbestimmtheit als Antwort auf die großen historischen Fragen von Entmenschlichung und Biopolitik auch einigermaßen vage.

    Die Fragen, von denen Agamben ausgeht, haben zweifellos eine zwingende politische und philosophische Brisanz. Solange seine Schriften kritische Positionen einnehmen, solange ist ihnen eine Plausibilität und eine mitunter bedrohliche Evidenz nicht abzusprechen. Die anthropologische Diskussion, die Agamben anhand der Grenzgestalt des Muselmanns entzündet, die biopolitischen Fragen, die sich an seinen Essay über Mensch und Tier anknüpfen – sie sollten tatsächlich mit Nachdruck erörtert werden.

    Das subversive Ethos einer leiblich-performativen Existenz steht dagegen weitaus rätselhafter da. Als poetologisches Gegenkonzept, das sich gegen die Verkürzungen der kommunikativen Sprache stemmt und gesellschaftliche Existenz in ihrer anthropologischen Dimension denkt, ist es zwar durchaus reizvoll. Reizvoll ist es zumal in der Synthese einer praktischen Philosophie mit einer historischen Semiologie der Leiblichkeit. Um dieses Projekt jedoch über seine erste Anziehungskraft hinaus umfassend zu verstehen und anzueignen, müsste man möglicherweise erst lernen, Heidegger mit Pasolini zu lesen.

    Giorgio Agamben
    Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge
    Suhrkamp, 158 S., EUR 9,-
    ders.: Das Offene. Der Mensch und das Tier
    Suhrkamp, 108 S., EUR 7,-.
    ders.: Die kommende Gemeinschaft
    Merve Verlag, 105 S., EUR 10,80