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Grenzgeschichten

Diesseits und jenseits der 3500 Kilometer langen Grenze zwischen Mexiko und den USA entsteht gegenwärtig eine quicklebendige, fantasievolle Literatur über Migration. Dazu gehören Romane wie Salvador Plascencias "Menschen aus Papier" oder Maria Amparo Escandóns "Gonzalez und Tochter, Trucking Company".

Von Margrit Kligler-Clavijo |
    Anfang der 90er-Jahren hatte eine Gruppe junger, radikaler Autoren - Jorge Volpi, Ignacio Padilla und Eloy Urroz - die literarische Bewegung Crack gegründet, die sich, wie Jorge Volpi erklärt, vom magischen Realismus abgrenzt und urban und global sein will.

    "Wir haben als Crack stets gefordert: Ein lateinamerikanischer Schriftsteller sollte über alle möglichen Themen schreiben können, ohne dass der Ort von Belang wäre. Ich habe mehrere Bücher über Mexiko geschrieben, doch auch solche, die überhaupt nichts mit Mexiko zu tun haben."

    Jorge Volpi gelang 1999 der internationale Durchbruch mit "Das Klingsor-Paradox", einem packenden Roman über die Atomforschung im Dritten Reich und Atomphysiker wie Werner von Heisenberg, Otto Hahn und Niels Bohr.

    "Ich bin ein großer Verfechter der Wissenschaft, um die man nicht herumkommt, wenn man den Menschen und seine Kultur verstehen will. Die Kultur muss auch eine wissenschaftliche Kultur sein. Daher spielt in dem Roman 'Das Klingsor-Paradox' die Physik eine wichtige Rolle."

    "Das Klingsor-Paradox" ist der erste Band einer breit angelegten Romantrilogie
    über die prägenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Der zweite, 2004 erschienene Band "Elfin de la locura" blieb unübersetzt, im Gegensatz zum letzten Band der Trilogie "Zeit der Asche", der dieses Jahr erschien.

    "Hier geht es um zwei verschiedene wissenschaftliche Fachgebiete: Ökonomie und Entwicklungsbiologie. Und obwohl der Erzähler vorgibt, von der Biologie nichts zu halten, analysiert er im Verlauf des Romans die Ereignisse rigoros aus einer biologischen Perspektive, als ob der Mensch von egoistischen Genen beherrscht würde."

    In "Zeit der Asche" wird aus der Sicht von drei Frauen - einer russischen Biologin, einer ungarischen Informatikingenieurin und einer nordamerikanischen, für den Internationalen Währungsfonds tätigen Wirtschaftswissenschaftlerin - das 20. Jahrhundert ins Blickfeld gerückt, mit dem Weitwinkelobjektiv, im Schnelldurchgang: 1929 Börsenkrach in New York und Weltwirtschaftskrise, 1985 Reaktorunfall in Tschernobyl, 1989 Berliner Mauerfall und der Zerfall der Sowjetunion, wirtschaftliche Strukturanpassungsmaßnahmen im Kongo und in Mexiko, Krieg zwischen Palästina und Israel, die Entschlüsselung der DNS, die Vermarktung der Gentechnologie, Umweltbewegung und Globalisierungsgegner et cetera.

    Wie man das alles in einen Roman packt? Indem man auf Tiefenschärfe verzichtet, das große Ganze im Auge behält und sich nicht sonderlich um die psychologische Ausgestaltung der Romanfiguren kümmert.

    Ähnlich ambitioniert und allumfassend ist der posthum erschienene Roman 2666 des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolano. Der hatte in den 70er-Jahren in Mexiko im Exil gelebt, den Roman jedoch in Spanien geschrieben. Bei seinen Reflexionen über das Böse war er ausführlich auf die Frauenmorde in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez eingegangen. Namentlich erwähnte Bolano in 2666 seinen engen Freund, den Schriftsteller Sergio González Rodríguez. Der hatte in den 90er-Jahren für die Zeitung "Reforma" über die brutalen Frauenmorde geschrieben, denen überwiegend junge Frauen zum Opfer fallen, die in Billiglohnfabriken arbeiten. Diese Artikel sind die Grundlage seines 2001 erschienenen Romans "Huesos en el desierto"/ "Knochen in der Wüste".

    Neben Gabriel Trujillo Munoz, Elmer Mendoza, Daniel Sada und Eduardo Antonio Parra zählt Sergio González Rodriguez zu der in Grenzstädten wie Ciudad Juárez, Tijuana oder El Paso entstandenen "Narcoliteratur". In der geht es um einflussreiche Drogenkartelle, illegale Waffenschieber, institutionalisierte Korruption und Gewalt, ohne den bluttriefenden Realismus billiger Krimis, wie der Schriftsteller David Toscana betont.

    "Eduardo Antonio Parra ist ein ungewöhnlicher, kraftvoller Erzähler, der zwar viel über Gewalt schreibt, jedoch für die Gewalt eine literarische Sprache schuf, kein purer Realismus mit jeder Menge Blut."

    Diesseits und jenseits der 3500 Kilometer langen Grenze zwischen Mexiko und den
    USA entsteht gegenwärtig eine quicklebendige, fantasievolle Literatur über Migration,
    die vom ungebrochenen Glauben ans Erzählen lebt. Dazu gehören Romane wie Salvador Plascencias "Menschen aus Papier" oder Maria Amparo Escandóns "Gonzalez und Tochter, Trucking Company", ein umwerfend komischer Roman über eine Vater-Tochter-Beziehung.

    Joaquín González war Professor für Literatur an der UNAM in Mexiko-Stadt, bis er sich infolge der 68er-Studentenunruhen in die USA absetzte, Lastwagenfahrer wurde und nach dem Tod seiner Ehefrau mit seiner Tochter Libertad kreuz und quer durch die USA tourte, wobei er Liberdad mit spannenden Erzählungen bei Laune hielt. Später wird Liberdad im Frauengefängnis von Mexikali - dort sitzt sie in Untersuchungshaft wegen des Verdachts fahrlässiger Tötung - ihre Mitinsassinnen zum Erzählen ihrer Lebensgeschichten animieren. Und da geht es um Liebe und Enttäuschung, Drogenschmuggel und Gewalt.

    Elena Poniatowskas Chroniken sind ein Seismograf der politischen Entwicklung Mexikos. "Amanecer en el Zocalo" ("Erwachen auf dem Zocalo") nannte sie eine 2007 erschienene Chronik über die massiven Proteste auf dem Zocalo von Mexiko-Stadt, wo Anhänger von López Obrador, dem nur knapp unterlegenen Präsidentschaftskandidaten der Linken, eine Neuauszählung der Stimmzettel forderten. Seit "Die Nacht von Tlatelolco", international viel beachteten Chroniken über die brutale Repression der Studentenbewegung im Oktober 1968, zählt Elena Poniatowska zu den Autoren, die unerbittlich soziale und politische Missstände kritisieren.

    "Von der UNAM sind viele soziale Bewegungen ausgegangen.1994 haben Jugendliche von dort aus die ersten Brigaden nach Chiapas geschickt und den Subcomandante Marcos unterstützt. Die Zapatisten haben lang und breit über die elf Millionen Indígenas diskutiert, die man in unserem Land völlig übersieht und die unter unmenschlichen Bedingungen leben. Das war ganz wichtig. Unser Land ist heute politisierter als früher. Meines Erachtens ist da etwas ganz Wichtiges am Entstehen, eine Art ziviler Widerstand, der intelligenter, stärker, ja sogar viel couragierter als die mexikanische Revolution ist."

    Im Sog der politischen Proteste der Indios in Chiapas und Oaxaca wurde auch die indigene Literatur Mexikos sichtbarer. Juan Gregorio Regino ist der Vorsitzende des indigenen Schriftstellerverbandes, in dem sich all die Autoren zusammengeschlossen haben, die in einer der über sechzig indigenen Sprachen Mexikos wie Zapotekisch, Triqui, Maya et cetera schreiben. Juan Gregorio Regino verfasst seine von der Kosmovision der Indios inspirierten Gedichte auf Mazatekisch und übersetzt sie selbst ins Spanische.

    "Wir sind heute zweisprachig und brauchen uns nicht mehr zu schämen, ganz im Gegenteil. Wir sind im Begriff, uns intellektuell zu dekolonisieren und auf eine ganze neue Art mit dem Eigenen und dem Fremden zu leben."

    "Los puentes de Königsberg"/ "Die Königsberger Brücken" hat David Toscana - er wurde 1961 in Monterrey geboren und war 2003 DAAD-Stipendiat - seinen vor kurzem erschienenen Roman genannt, der zwar im mexikanischen Monterrey angesiedelt ist, jedoch vom ostpreußischen Königsberg handelt.

    "Nachdem ich schon ein bisschen Deutsch konnte, habe ich entdeckt, dass Monterrey ins Deutsche übersetzt Königsberg heißt. Daher habe ich versucht, diese beiden Städte gefühlsmäßig miteinander zu verbinden, obwohl sie anscheinend nichts miteinander zu tun haben. Ich habe mir einen Roman ausgedacht, der im Zweiten Weltkrieg spielt. Königsberg hat mich auch deshalb interessiert, weil diese Stadt total zerstört, einem anderen Land mit einer anderen Sprache zugeschlagen wurde und ein grässliches Monument des Kommunismus war. Meine Romanfiguren halten es mit Kant und verlassen ihren Heimatort nie. Falls sie doch einmal auf Reisen gehen, nach Paris oder wie hier nach Königsberg, dann nur in ihrer Vorstellung. Der Roman spielt durchweg in Monterrey, allerdings glauben sie in ihrem Wahn und in ihrer geistigen Verwirrung, an einem anderen Ort, das heißt in Königsberg, zu sein, über den Adolf-Hitler-Platz zu gehen. Ich versuche in diesem Roman, den Zeitgeist wiederzugeben, Meines Erachtens muss der Roman die unbequemen Orte der Geschichte aufsuchen, das kann Mexiko im Jahr 1968 sein oder Deutschland zwischen 1939 und 1945 oder die kommunistische Sowjetunion. Der Roman ist für mich nach wie vor das Territorium des unbequemen Ortes."

    Bibliografie:

    Roberto Bolano: 2666
    München, Hanser, 2009

    Mario Bellatin: Damas chinas
    Anagrama, Barcelona, 2006

    Maria Amparo Escandón: González und Tochter, Trucking Company
    Edition Köln, 2009

    Guillermo Fadanelli: Das andere Gesicht Rock Hudsons
    Berlin, 2007

    Carlos Fuentes: Alle glücklichen Familien
    Frankfurt, 2008

    Carlos Fuentes: La voluntad y la fortuna
    Madrid, 2008

    Cristina Rivera Garza: Nadie me verá llorar
    Barcelona, 1999

    Cristina Rivera Garza: Lo que la muerte me da
    Barcelona, 2008

    Margot Glantz: Genealogías
    Valencia, 2006

    Heiderose Hack-Bouillet: Nezahualcóyotl, Blumen und Gesänge,
    Leben und Werk eines mexikanischen Dichterkönigs des 15. Jahrhunderts

    Scaneg Verlag, München, 2005

    Angeles Maestretta: Ehemänner
    Frankfurt, 2009

    Elmer Mendoza: Efecto Tequila
    Barcelona, 2001

    Ignacio Padilla: Schatten ohne Namen
    Stuttgart, 2008

    Sergio Pitol: Die Kunst der Flucht
    Berlin, 2007

    Salvador Plascencia: Menschen aus Papier
    Hamburg, 2009

    Eduardo Antonio Parra: Parábolas del silencio
    Mexiko, 2007

    Elena Poniatowska: Amanecer en el Zocálo
    Mexiko, 2007

    Sergio González Rodriguez: Huesos en el desierto
    Barcelona, 2001

    Juan Gregorio Regino: No es eterna la muerte
    Mexiko, 1993

    Juan Rulfo: Pedro Páramo
    München, 2008

    Daniel Sada: Casi nunca
    Barcelona, 2008

    David Toscana: El último lector
    Mexiko, 2004

    David Toscana: Los puentes de Königsberg
    Mexiko, 2009

    Jorge Volpi: Das Klingsor-Paradox
    Stuttgart, 2001

    Jorge Volpi: Zeit der Asche
    Stuttgart, 2009

    Jorge Volpi: El jardin desvastado
    Mexiko, 2008

    Jorge Volpi: Mentiras contagiosas
    Mexiko, 2008

    Jorge Volpi: El insomnio de Bolivar
    Mexiko, 2009