Freitag, 29. März 2024

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Grenzkonflikt als koloniales Erbe
Eskalation im Streit zwischen Indien und China

Erstmals seit 1975 hat es in dieser Woche wieder Tote an der Grenze zwischen Indien und China gegeben. Deren Verlauf ist gleich an mehreren Stellen zwischen beiden Ländern umstritten. Nun droht der Konflikt weiter zu eskalieren: Indien denkt über Gegenmaßnahmen nach - trotz Abhängigkeit von China.

Von Silke Diettrich | 20.06.2020
Soldaten der indische Grenztruppen an einem Straßenposten in der Region Ladakh
Soldaten der indische Grenztruppen an einem Straßenposten in der Region Ladakh (imago/Waseem Andrabi)
Die indischen Fernsehsender zeigen stundenlang eine Trauerfeier nach der anderen. Die Kamera hält direkt auf die Familienangehörigen der Soldaten. "Die mutigen Herzen haben ihr Leben lassen müssen", so die Untertitel im Fernsehen. Fast zeitglich findet eine symbolische Bestattung statt: Auf einer Trage liegt eine Puppe, die den chinesischen Präsidenten darstellen soll, eingehüllt in der chinesischen Flagge. Die meisten Inderinnen und Inder wollen Rache dafür, dass ihre Soldaten von Chinesen umgebracht wurden: "China hat uns betrogen, deshalb machen wir hier die Trauerfeier für den chinesischen Präsidenten. Die Chinesen haben uns schon immer betrogen."
Umstrittene Grenzlinie der Briten
Die Grenze zwischen Indien und China ist 3500 Kilometer lang. Die Briten haben sie gezogen - wie alle Grenzen in Südasien, nachdem sie ihre Kolonie, Britisch Indien, freigegeben hatten. Bis heute ist die Grenzziehung zwischen Indien und China umstritten. In Indien spricht man daher auch nicht von der Grenze, sondern von der "Linie der aktiven Kontrolle". Im Jahr 1962 haben die Streitigkeiten darüber zu einem Krieg geführt. Einen Monat lang hat er gedauert, Tausende Soldaten haben ihr Leben verloren. China hatte gewonnen - bis heute eine Schmach für die indische Nation.
Bei Protesten in Indien verbrennen Demonstranten eine Puppe mit dem Konterfei von Chinas Präsident Xi Jinping und eine chinesische Flagge
Bei Protesten in Indien verbrennen Demonstranten eine Puppe mit dem Konterfei von Chinas Präsident Xi Jinping und eine chinesische Flagge (imago/Samir Jana)
Die aktuelle Eskalation in der Grenzregion führen Experten wie Doktor Bali Deepak auch darauf zurück, dass Peking nun gerade in der globalen Pandemie versuche, die Gelegenheit zu ergreifen, um seine militärische Macht zu demonstrieren und seinen politischen Einfluss auszudehnen. Am Telefon mit dem ARD-Studio Südasien sagt Dr. Deepak, einer der führenden Experten in Indien, der zu China forscht: "Das ist aber auch generell Chinas Habitus. Die Chinesen haben riesige Besitzansprüche. Sie rücken zwei Schritte vor, dann verhandeln sie und gehen nur einen Schritt zurück. Also gewinnen sie immer einen Schritt dazu. China hält sich nicht an internationale Regeln."
Gegenseite Schuldzuweisungen
Das weist Peking weit von sich. Sowohl Indien als auch China gegeben sich gegenseitig die Schuld an dem Zusammenstoß in der Grenzregion. Im Interview mit dem ARD-Studio Shanghai sagt Liu Zong Yi vom Institut für Internationale Studien: "Der Hintergrund für die Eskalation ist die aufgeheizte Konkurrenz zwischen China und den USA. China wird von den USA unter Druck gesetzt und Indien sieht das als Möglichkeit, um Druck auf China auszuüben. Deshalb gab es diese Auseinandersetzung nun im Grenzgebiet. Indien glaubt, gerade jetzt strategische Gewinne einfahren zu können."
Einig sind sich die beiden Rivalen nur in einem: Es habe kein Schusswechsel stattgefunden. Darauf hatten sich Indien und China schon im Jahr 1996 geeinigt. In einem Abkommen zwischen den beiden Ländern steht, dass keine Seite innerhalb von zwei Kilometern Umkreis von der Linie der aktuellen Kontrolle, Schusswaffen oder Sprengstoff benutzen darf. Die indische Armee sagt, die Soldaten seien im Nahkampf gestorben.
Indien will Angriff nicht unbeantwortet lassen
Was auf den ersten Blick recht ungewöhnlich erscheinen mag, sagt Smita Prakash, Redakteurin der indischen Nachrichtenagentur ANI. Vor allem, weil auf beiden Seiten so viele Soldaten postiert seien, samt Kriegsmaschinen: "Aber tatsächlich, seit dem Abkommen hat es offiziell keinen Schusswechsel mehr in der Grenzregion gegeben. Quellen in der indischen Armee allerdings sagen, dass chinesische Soldaten Bambusstöcke mit Nägeln benutzt hätten. Und unbestätigte Quellen sagen, dass Soldaten im Faustkampf von Felswänden hinabgestürzt seien."
Indien will den vermeintlichen Angriff von der chinesischen Seite nicht auf sich sitzen lassen: "Die Aufopferungen unserer Soldaten wird nicht umsonst gewesen sein", sagt Premierminister Narendra Modi. Derzeit finden zahlreiche Regierungstreffen statt, um darüber zu beraten, wie sich die indische Seite nun verhalten soll. China-Experte Dr. Deepak vermutet: "Militärisch wird Indien seine Grenzverteidigung verstärken und wenn es eine Herausforderung gibt, wird Indien nicht vor China buckeln. Indien wird China feindlich gegenübertreten, auch wenn es ein limitierter Konflikt ist. Denn Indien will den Konflikt derzeit nicht eskalieren."
Indien ist wirtschaftlich und militärisch unterlegen
Daran habe auch Peking kein Interesse, sagt Liu Zong Yi: "Keiner will einen so genannten heißen Krieg. China hat Indien nie als einen Gegner betrachtet. Das indische Militär ist nicht stark genug und auch die wirtschaftlichen Verhältnisse dort sind zu schlecht, als dass sie einen Krieg gegen uns wagen würden."
Das ist nicht nur reine Arroganz, sondern tatsächlich die Wahrheit. Daher wird in Indien auch viel lauter getrommelt gegen China, als umgekehrt. In den sozialen Netzwerken sind anti-chinesische Hashtags im Trend, wie: "Boykottiert chinesische Produkte." In der Tat denkt auch die indische Regierung darüber nach. Aber da wird sich Indien wohl eingestehen müssen, dass das Land auf chinesische Produkte angewiesen ist. Am 23. Juni wollen sich die Außenminister von Indien und China gemeinsam mit dem Außenminister von Russland in einer Videokonferenz zusammen schalten, um die aktuellen Spannungen zu diskutieren.