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Gretchenfrage der Weltgeschichte

Warum manche Regionen der Erde vom Wohlstand abgeschnitten sind und andere prosperieren - diese Frage steht im Mittelpunkt des Buches der beiden Ökonomen Daron Acemoglu und James A. Robinson. Sie analysieren die Gründe für den Erfolg und leiten daraus Empfehlungen für die Zukunft ab.

Von Gregor Peter Schmitz | 25.03.2013
    Es ist die Gretchenfrage der Weltgeschichte - warum sind einige Nationen reich, frei und demokratisch, während andere zurückbleiben? Die Autoren Daron Acemoglu und James Robinson, renommierte Ökonomen an der Harvard University und dem MIT, treibt diese Frage seit Jahrzehnten um - und sie stellen sie in den Mittelpunkt ihres wegweisenden Buches.

    War es historisch – oder geografisch oder kulturell oder ethnisch – vorherbestimmt, dass Westeuropa, die Vereinigten Staaten und Japan in den beiden vergangenen Jahrhunderten so viel reicher wurden als das sub-saharische Afrika, Lateinamerika und China? Ist eine kontrafaktische Welt denkbar, in der sich die Glorreiche und die industrielle Revolution in Peru ereignen, das danach Westeuropa kolonisiert und dessen weiße Einwohner versklavt, oder wäre das nur eine Form der historischen Science-Fiction?

    Entwicklungsökonomen haben extrem unterschiedliche Theorien präsentiert, weshalb die Welt sich auseinander bewegt - mal soll die Geografie verantwortlich sein, mal die Kultur, mal das Klima. Die Autoren verwerfen diese Ansätze nicht pauschal, aber sie halten keinen davon für umfassend genug. Entscheidend seien politische Institutionen, die das Ausschöpfen der kreativen Kräfte einer Gesellschaft erlauben:

    Das Wirtschaftswachstum wird von Innovationen sowie vom technologischen und organisatorischen Wandel angetrieben, die sich den Ideen, den Begabungen, der Kreativität und der Energie von Individuen verdanken. Aber dazu bedarf es entsprechender Anreize. Den Schlüssel zu nachhaltigem wirtschaftlichem Erfolg findet man im Aufbau einer Reihe von Wirtschaftsinstitutionen – inklusiver Wirtschaftsinstitutionen –, welche die Talente und Ideen der Bürger eines Staates nutzbar machen können, indem sie geeignete Anreize und Gelegenheiten bieten, dazu gesicherte Eigentums- und Vertragsrechte, eine funktionierende Justiz sowie einen freien Wettbewerb, sodass sich die Bevölkerungsmehrheit produktiv am Wirtschaftsleben beteiligen kann.

    Das klingt simpel und logisch. Doch ist es historisch leider die Ausnahme, weil die Beharrungskräfte der Eliten oft zu stark sind - und so Wandel schwierig ist, wie Mitautor Daron Acemoglu im Gespräch mit dem "Economist" erklärt:

    "Ich glaube, das ist eine der schwierigsten Herausforderungen, die sich einer Nation stellen kann - wenn es Institutionen gibt, die das Land eher ausbeuten und wenn Eliten davon profitieren, wie bricht man diese Strukturen auf' Historisch gesehen gibt es zwei Wege - wie Großbritannien im 19. Jahrhundert, das durch graduelle Reformen diesen negativen Rhythmus durchbrach. Leider aber steht dieser Weg nicht vielen Nationen offen. Und wenn der Widerstand der Eliten zu stark ist, weil sie nicht die Verlierer dieser Entwicklung sein wollen, dann sind wie im Arabischen Frühling revolutionäre Bewegungen nötig."

    So verschlief die reiche unabhängige Handelsstadt Venedig den Fortschritt, weil fortschrittliche Handelspolitik von besorgten Eliten blockiert wurde, wie die Autoren faszinierend beschreiben. In Großbritannien hingegen gelang der Umschwung, weil das Bürgertum stark genug geworden war, um Mitsprache zu erzwingen. In einer faszinierenden Tour quer über den Globus blicken die Ökonomen auch auf die Welt von heute: Russland und Saudi-Arabien halten sie für Rohstoff-Kleptokratien ohne verlässliche politische Institutionen. In China erhalte die wachsende Mittelschicht keine Mitsprache, was echte Entwicklung erschwere. In Mexiko blockiere ein einzelner Milliardär mit seinen Monopolen Innovation, die jenseits der Grenze in den USA möglich sei. Doch Autor Acemoglu sieht auch dort Probleme bei der Nutzung des kreativen Potenzials, weil Amerikas Institutionen nicht mehr so funktionierten wie gehofft:

    "Wir erleben dort einen massiven Anstieg von sozialer Ungleichheit - und vor allem, was besonders besorgniserregend ist, einen dramatischen Anstieg von politischer Ungleichheit. Historisch gesehen waren die USA dafür berühmt, breiten Zugang zum politischen Entscheidungsprozess zu bieten, aber das stimmt nicht mehr - nun aber können nur noch Großspender leicht Zugang zu Politikern erhalten. Und das ist eine echte Gefahr für Amerikas Institutionen. Wenn die politische Ungleichheit so ausgeprägt ist, beeinflusst dies auch die wirtschaftliche Entwicklung negativ."

    Somit liest sich das Buch wie eine Bestätigung, dass westliche Demokratien autoritären Diktaturen letztlich überlegen sind - doch zugleich als Warnruf, dass diese nicht automatisch gut funktionieren, gerade derzeit Europa nicht. Für dessen aktuelle Krise empfehlen die Autoren einen Ausweg nach amerikanischem Vorbild, das ebenfalls eine Währungsunion ohne zentrale Fiskalpolitik verwirklichen musste:

    Der Sumpf wurde mit Hilfe der US-Verfassung trockengelegt, die der Zentralregierung die (beschränkte) Macht verlieh, Steuern zu erheben und Geldmittel über die Staatsgrenzen hinweg zu verteilen, während die Verschuldung der Staaten gleichzeitig auf die Zentralregierung übertragen wurde. Im heutigen Sprachgebrauch: Man rettete Staaten, die sonst zahlungsunfähig geworden wären. Entscheidend war jedoch, dass sich die US- Regierung weigerte, den Finanzmärkten eine pauschale Garantie für die Staatsschulden zu geben. Nach 1829, als viele Staaten steigende Defizite aufwiesen, ließ die Regierung Zahlungsausfälle zu. Dies führte nicht zu einer untragbaren Arbeitslosigkeit und einer Einfrierung von Geldern auf den Finanzmärkten, weil es sich im Rahmen einer funktionierenden fiskalischen und politischen Union abspielte.

    "Funktionieren" müssen die Institutionen - so lautet der Ausweg für Europa, aber auch für alle anderen Staaten. Nicht alle diese Schlussfolgerungen sind überraschend. Doch sie so gesammelt und anschaulich zu beschreiben, ist der große Verdienst der Autoren. Daher wird ihr in den USA begeistert aufgenommenes Buch rasch zu einem Standardwerk zur Gretchenfrage der Menschheitsgeschichte avancieren.

    Daron Acemoglu, James A. Robinson: Warum Nationen scheitern. Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut
    S. Fischer Verlag, 608 Seiten, 24,99 Euro
    ISBN: 978-3-10000-546-5