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Griechenland
Samarina, das höchstgelegene Dorf des Balkans

Das griechische Bergdorf Samarina hat erst vor fünf Jahren eine richtige Straße bekommen. Dort leben das Hirtenvolk der Vlachen, mit eigener Sprache und eigenen Traditionen. Und das Dorf strahlt eine ganz besondere Bergstimmung aus.

Von Marianthi Milona |
    "Ich stamme von hier. Großvater und Großmutter, meine Eltern und dann bin auch ich hier geboren. Die Vlachen sind als Nomadenvolk bekannt. Sechs Monate leben sie in den Bergen und sechs unten im Tal. Mein Großvater ist Wollhändler gewesen. Die Familie besaß viele Webstühle. Bei uns zu Hause wurden echte Flokati-Decken kunstvoll angefertigt. Aber auch alles andere, was sich mit dem Webstuhl herstellen ließ. Der Großvater verkaufte die Produkte auf weitentfernten Märkten. Damals fuhr man von Samarina sogar bis nach Odessa."
    Erklärt mir an einem sonnigen Morgen im Herbst Dimitris Tsangouris. Er ist der erste Mensch, den ich in Samarina antreffe, weil er das größte Hotel am Eingang von Samarina gebaut hat. Sein moderner Bau fällt schon aus der Ferne auf. Es ist nicht hässlich, wirkt aber auf den ersten Blick einfach zu groß für dieses kleine abgelegene Bergdorf. Auf 1650 Meter Höhe ist Samarina nicht nur das höchst gelegene Dorf Griechenlands, sondern auch das des gesamten Balkans. Es befindet sich im westgriechischen und gebirgigen Landstrich Epirus, nur einen Katzensprung von der albanischen Grenze entfernt.
    Ich hatte keine konkrete Vorstellung, was mich an diesem Ort wirklich erwartet. Ursprünglich dachte ich nur, der lärmenden Großstadt zu entfliehen. Mal wieder frische Luft einatmen. Schlichtes Landessen genießen und den Blick weit über die Berge schweifen lassen. Auch hatte ich noch nie auf meinen Reisen ein Vlachendorf besucht.
    Die Vlachen werden in Westeuropa Aromunen genannt. Ein Hirtenvolk, das vermutlich im ersten vorchristlichen Jahrhundert in Rumänien entstanden ist, mutmaßen die Wissenschaftler, und sich irgendwann im westgriechischen Gebirge niedergelassen hat. Obwohl die Vlachen auf dem gesamten Balkan zu finden sind, existieren die größten Gemeinden nur in Griechenland. Im Epirus, Makedonien und der thessalonischen Tiefebene. Und sie sind auch noch als patriotische Griechen in die griechische Befreiungsgeschichte eingegangen. Viele Vlachen wurden berühmte Kämpfer. Davon berichten sie in ihren Liedern. Ursprünglich als Klagegesänge entstanden, sind sie heute aus der traditionellen griechischen Volksmusik einfach nicht mehr wegzudenken.
    Vlachen sprechen eine eigene Sprache
    Berühmt sind die Vlachen auch wegen ihrer eigene Sprache, die manchmal rumänisch, manchmal lateinisch, vermischt mit griechischen Sprachelementen klingt. Es ist eine mündlich tradierte Sprache ohne eigenes Alphabet und beim Zuhören verstehe ich als Griechin, ehrlich gesagt, nicht ein einziges Wort.
    Zum Glück sprechen sie in Samarina auch alle fließend Griechisch. Auch wenn die Samarinioten keine Gelegenheit auslassen, um den fremden Gästen ihre Sprache vorzuführen. Auf dem kleinen zentralen Platz, rund um einen 90 Jahre alten Walnussbaum, spielt sich das gesellschaftliche Leben der Samarinioten ab. In den vier Tavernen, einem Kaffeehaus und einer Käserei, treffen sich alle, um zu erzählen. Nicht unbedingt über neu erworbene Güter, vielmehr darüber, wie es den Tieren auf den Weiden geht und dass irgendein Ersatzteil am Auto kaputt gegangen ist. Obwohl: Die meisten Schäfer, die ich gesehen habe, waren zu Fuß oder auf dem Pferd zu den Weiden unterwegs. Im Zentrum Samarinas begegne ich zufällig den 73-jährigen Giorgos Kiakas, der als Rentner nicht nur Zeit hat. Er entpuppt sich auch noch als geschickter Erzähler und ist froh, dass er einer jungen Journalistin von seinem Heimatort erzählen darf.
    "Früher, ja da sah die Welt hier oben noch ganz anders aus. Samarina war über seine Grenzen hinaus bekannt. Wenn man früher danach fragte, wo denn Grevená liegt, das heute 50 Kilometer entfernte Kleinstädtchen, wo wir jetzt immer zum Tanken hinfahren müssen, weil wir keine eigene Tankstelle im Ort besitzen, dann pflegte man immer zu antworten: Grevená liegt bei Samarina. So bedeutend und groß ist unser Ort gewesen. Um 1904 lebten hier über 5000 Menschen, während Grevená lächerliche 500 Einwohner besaß."
    Der wortgewandte Mann lebt das ganze Jahr über in Samarina. Neben dem jungen Hotelier Dimitri und einer Handvoll anderer Personen wandern ab Oktober alle übrigen Samarinioten, die meisten von ihnen bis heute, Schafs- und Ziegenhirten, mit ihren circa 70.000 Schafen hinunter ins Tal, um zu überwintern, und kommen erst wieder zum kommenden Frühling nach Samarina hinauf. Im Winter würde man in Samarina nur 20 Häuser sehen, die Licht haben, erfahre ich. In den Sommermonaten ist er hier sehr erträglich, keine Spur von der unerträglichen Hitze im Tal. Deswegen erwacht im Sommer der Ort zum neuen Leben. Doch ab Oktober kann man in Samarina nur noch den Wind heulen hören. Fast totenstill ist es in den schmalen Gassen.
    Stille ab Oktober
    Diese Stille wird höchstens durch den Gang eines kleinen Esels unterbrochen, der täglich seine Runden im Ort dreht oder durch den Klang der zahlreichen Wasserstellen, die ich überall im Dorf antreffe. Aus purer Gewohnheit bin ich nach meine Ankunft in Samarina am Kiosk eine Flasche Wasser kaufen gegangen, obwohl Herr Giorgos mir erzählt hatte, dass oberhalb von Samarina eiskalte Wasserquellen entspringen, mit dem besten Wasser, muss ich zugeben, dass ich jemals getrunken habe. Als mir Herr Giorgos dann ein Glas zum Trinken reicht, hat er sogleich auch die nächste Geschichte aus der Tasche gezaubert.
    "Vor dem Zweiten Weltkrieg litten viele unten im Tal an Tuberkulose. Man brachte viele von ihnen hier rauf. Die Ärzte versicherten damals, dass unser klares Wasser sich heilsam auf die Tuberkulosepatienten auswirkte. Vorausgesetzt man trank es nicht direkt an der Quelle, weil es eisig kalt war."
    Der junge Dimitri erzählt mir wenig später, er musste für den Bau seines Hotels bis zu 13 Meter tief graben, um auf festes Bodengestein zu stoßen. Weiter höher sei der Boden zu weich gewesen, aufgrund der vielen Wasserbäche, die den Berg hinunter laufen.
    Jetzt sitzt Dimitri in seinem imposanten Hotel in Samarina und zerbricht sich den Kopf darüber, wie er das ganze Jahr über Touristen ins Bergdorf locken kann. Schließlich gibt es viele Wandermöglichkeiten hier oben. Es gibt seltene Schmetterlingsarten, nach denen europäische Naturforscher suchen, wilde Orchideen wachsen entlang der Wildbäche und wilden Safran habe ich selbst im Vorgarten der alten Grundschule von Samarina entdeckt, die heute leer steht. Hotelier Dimitri hat es längst aufgegeben seinen Mitbewohnern davon zu erzählen, dass Samarina eine große Attraktion in Griechenland werden könnte.
    "Als ich 1995 mich entschloss, nur noch hier oben zu leben, erzählte ich den Leuten im Lokal: Wir würden irgendwann mal beten, dass Weihnachten zweimal stattfindet und nicht nur das Maria Himmelfahrtsfest, weil die meisten Griechen nur am 15. August Samarina besuchen. Da antworteten sie mir auf aromunisch: I asti kerdút - der ist ja verrückt!"
    Dimitris blickte aber vorausschauend. Als vor einigen Jahren der zwölf Kilometer entfernte Berg Vassilitsa touristisch aufgewertet wurde mit einem hochmodernen Skizentrum, verirren sich plötzlich auch während der Weihnachtszeit fremde Gäste in den kleinen Gassen in Samarina. Doch es wird ihnen hier oben noch zu wenig angeboten, damit sie bleiben. Der Ort ist ihnen definitiv zu einsam und still. Sie kommen mit ihren Jeeps angefahren, essen gegrillte Ziegen- oder Lammkoteletts, probieren den einzigartigen Schafskäse und fahren schnell wieder zurück. Der alte Giorgos kann es verstehen. Die Ruhe, die müsse man schon ertragen können, wenn man hier oben ist.
    "Der Grund, warum ich hier oben leben kann, ist, ich habe mich den Bedingungen angepasst. Du brauchst schon ziemlich starke Nerven, um hier zu existieren. Und du musst das hier oben lieben. Wenn du im Frühling hier morgens die Vögel hörst, da erhebt sich deine Seele. Im Winter sitzt du im Haus und beobachtest die Schneeflocken und auf einmal hat es über einen Meter geschneit. Und das in Griechenland. Die Natur gibt dann ein ganz eigenes Geräusch wieder. Es ist, als würde dir jemand das Gehirn sauber filtern."
    Und so bleibe ich an diesem Herbsttag noch länger in Samarina sitzen und lausche auf die alten und die neuen Geschichten des alten Mannes. Er erzählt mir von unzähligen Kinderstimmen, die jetzt nicht mehr in Samarina zu hören sind, weil sie im Tal zur Schule gehen müssen. Auch von den 3000 Pferden, die zu alten Zeiten beladen wurden, damit man alles ins Tal befördern konnte. Vom angenehmen Bergklima und der geringen Luftfeuchtigkeit in Samarina ist er überzeugt. Schließlich erwähnt er noch die Hunderte Kunsthandwerker, die in Samarina lebten, vor allem die Goldschmiede, die hier niemand so recht vermuten würde.
    "Bitte fahren sie noch zu unserer Hauptkirche, bevor sie den Ort verlassen."
    Ruft mir ein Tavernenbesitzer Lakis Abdelas zu, als ich mich verabschiede.
    "Dort wächst auf dem Dach der Apsis ein Fichtenbaum, der seine Wurzeln weder im Kircheninnern noch draußen im Boden hat. Er hat seine Wurzeln auf dem Dach ausgebreitet und existiert schon sehr lange dort. Ich denke, ich spreche für alle, dass es keinen zweiten wie diesen auf der Welt gibt."