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Griechische Mythen inhaltlich korrigiert

In 25 Erzählungen ergänzt Christoph Hein griechische Mythen um kleine Drehungen, Perspektivveränderungen und scheinbar nicht beachtete Details. Sie bewirken eine produktive Verunsicherung.

Von Matthias Eckoldt | 13.06.2013
    "Überall wurde nach dem ersten Buch Homers gesucht, dem ursprünglichen Gesang. Unter den Trümmern von Troja, auf Leuke, in allen mittelländischen Ländern wurde gesucht und gegraben, aber bis zum heutigen Tag wurde keine dieser Schriftrollen gefunden. Doch sie sind vorhanden. Irgendwo. Sie sind in der Welt."

    Christoph Hein treibt in seinem Erzählband "Vor der Zeit" ein kühnes literarisches und intellektuelles Spiel. Die Dichtungen des Homer, so die Fiktion in einer der 25 Erzählungen des Buches, sind bei Odysseus nicht auf Wohlwollen gestoßen und so hat er den Dichter angewiesen, Korrekturen vorzunehmen. Homer tat das, versteckte aber das Original an einem unbekannten Ort. Auf uns Heutige sind nur die von Odysseus zensierten Gesänge gekommen. Somit ist es für einen der Nachfolger Homers legitim, über Varianten in der griechischen Mythologie nachzudenken. Alles könnte anders gewesen sein - vielleicht nicht völlig anders, aber ein wenig. Christoph Hein schlägt Korrekturen - so auch der Untertitel des Bandes - an den antiken Mythen vor und erzählt ausgewählte Episoden noch einmal neu. Der Leser wird mit kleinen Drehungen, Perspektivverschiebungen und scheinbar bislang nicht beachteten Details konfrontiert, die das Treiben der Götter und Menschen in einem anderen Lichte erscheinen lassen.

    In insgesamt 25 Erzählungen praktiziert Hein seine eigensinnige, archäologische Methode und lässt die mythologischen Helden von Helena über Eros und Hades bis zu Odysseus, Zeus und Herakles auftreten. Letzterer musste bekanntlich zwölf Arbeiten erledigen. Hein erzählt jedoch von einer 13. Arbeit des Herakles, die ihm von Eurystheus aufgetragen wurde. Waren die anderen zwölf gefährlich und kaum zu bewältigen, so ist diese 13. schlicht undurchführbar. Sie lautet:

    "Besiege Zeus!"

    Als Heins Herakles aufgewühlt und verzweifelt durch die Lande irrt, schickt der König von Ligys sein gesamtes Heer gegen ihn. Herakles tötet Hunderte von Soldaten, sinkt dann aber erschöpft und ohne jede Hoffnung zu Boden. Im Angesicht des Todes beginnt der bislang unbesiegbare Herakles zu weinen und betet zu Zeus. Das rührt den mächtigsten der Götter, und er rettet Herakles. Auf diese Weise besiegt Herakles in Heins Auslegung sogar Zeus.

    "Von der 13. Arbeit aber, von dem Sieg über Zeus, wagte kein Gott und kein Sänger zu berichten. Und selbst Homer, der von der 13. Arbeit wusste, fürchtete den Zorn des Allgewaltigen und verschwieg diese unerhörte Tat."

    Heins Erzählungen bewirken eine produktive Verunsicherung, da sich der Leser zu keinem Zeitpunkt sicher sein kann, ob der jeweilige Mythos noch Homer oder schon Hein folgt. So weitet sich die Lektüre aus und man sieht sich angehalten, seine Kenntnisse über die griechische Mythologie aufzufrischen, um in vollem Umfang sein intellektuelles Vergnügen an dem Buch "Vor der Zeit" zu haben. Vor dem Hintergrund der Homerschen Epen erwacht ein geradezu detektivischer Ehrgeiz, die Akzentverschiebungen in Heins Neuerzählungen zu erkunden, die in klarer, funktionaler Sprache geschrieben sind.

    Doch leider scheint Christoph Hein diese Art intertextueller Artistik nicht genügt zu haben, und er beginnt etwa ab der Hälfte des Buches mit erhobenem Zeigefinger zu erzählen. So erstirbt die Freude an der literarisch wie geistig kühnen Grundidee von Heins Korrekturen spätestens bei seiner Neufassung des Mythos von Echo. Nachdem die Nymphe auf Geheiß von Zeus dessen Frau Hera von einem seiner amourösen Abenteuer ablenkte, nahm ihr die doppelt betrogene Hera die Fähigkeit, eigenständig zu sprechen. Nur jeweils die letzten an sie gerichteten Worte konnte Echo von nun an wiederholen. Während sie in der griechischen Mythologie vor Gram verkümmert, ergeht es ihr bei Hein ganz anders:

    "Die Götter werden verehrt und angebetet, man achtet und fürchtet sie, beliebt aber bei den Irdischen ist nur die kleine Echo. Ihr eifert man nach, man will werden wie sie. Wem es gelingt, der erfreut sich der Zuneigung aller Menschen, denn niemandem hört man lieber zu als ihm. Die Mächtigen der Welt schenken ihm Gehör und schätzen seine Meinung höher als die aller anderen. Sie folgen bei ihren Entscheidungen seinem Urteil und befördern nach Kräften seine Karriere."

    Christoph Hein baut seine Erzählungen immer mehr zu Parabeln mit zeitgenössischen Bezügen und moralisierender Pointe aus. So wird der Mundschenk Tropo, nachdem er seinem König den Rat gegeben hatte, das fehlende Geld für seine Staatsausgaben einfach bei den Bürgern seines Reiches zu requirieren, mit einem sehr heutigen Beinamen geehrt:

    "Und Tropo galt seitdem als erster Ökonom der Antike. Und er war auch der Erste, dem der Titel Wirtschaftsweiser verliehen wurde."
    Dergestalt mischen sich Ressentiments in Heins Erzählungen, die aber nicht wie Salz in der literarischen Suppe des Schriftstellers aus der ehemaligen DDR wirken, sondern diese im Gegenteil fade und wässrig werden lassen. Hier hätte ein guter Lektor notgetan, der in der Lage gewesen wäre, Hein vor Hein zu schützen.

    Auch in der Erzählung über Asklepios, den Gott der Heilkunst, wäre dies angezeigt gewesen, wenn der die Leiden der Menschen lindernde Asklepios in Heins Version von Hades mit allen Mitteln geschurigelt und schließlich auf den Stuhl des Vergessens gesetzt wird. Dass die Aufrechten von den Mächtigen unterdrückt und aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt werden, mag ein Stück Geschichte zu Zeiten der DDR-Zensur gewesen sein. In der westlichen Lebenswelt der Hyperkomplexität, in der sich die Machtverhältnisse dezentralisiert und anonymisiert haben, wirkt eine solche Parabel nur platt und holzschnittartig.

    Zu resümieren bleibt, dass, wer als Leser die Absicht des Autors merkt, und es schafft, trotzdem nicht verstimmt zu sein, mit dem Erzählungsband "Vor der Zeit" einige anregende Tage verbringen kann.

    Buchinfos:
    Christoph Hein: "Vor der Zeit – Korrekturen", Insel Verlag, 189 Seiten, Preis: 19,95 Euro