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Grobschlächtige Künstler?

Paläontologie. - Die ältesten bekannten Kunstwerke stammen aus Westeuropa. Es sind 20 Figürchen aus Mammutelfenbein, die meisten kleiner als ein Daumen: Die Radiokarbon-Datierung ergab ein Alter von 32.000 bis 36.000 Jahren. Bis heute ist man davon ausgegangen, dass der Künstler ganz selbstverständlich der moderne Mensch gewesen muss. Denn unser Bild von uns selbst verträgt sich gut mit dem Image eines kreativen, schöpferischen Geistes - und wer sollte das auch noch haben, wenn nicht wir. Nun könnte unsere Weltbild ins Wanken geraten. Denn seit heute gibt es keine Belege mehr dafür, dass wir die Kunst erfunden haben. Ein schwere Schlag für unser Selbstverständnis. Könnte es tatsächlich sein, dass der Neanderthaler die ersten Künstler hervorgebracht hat?

Von Dagmar Röhrlich | 08.07.2004
    Gestern war die Welt noch in Ordnung. Über jeden Zweifel schien erhaben, dass wir, homo sapiens sapiens, die ersten Künstler hervorgebracht haben. Denn zusammen mit den Pferdchen und Löwenmenschen, den Enten und Kormoranen aus den Karsthöhlen im Lonetal bei Ulm waren auch Schädel und Knochen gefunden worden, die eindeutig von modernen Menschen stammen und nicht von den Neanderthalern, die vor mehr als 30.000 Jahren ebenfalls die Steppen Europas durchstreiften. Nicholas Conard vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Tübingen:

    Es ist so, dass Gustav Rieck, der ehemalige Leiter unserer Einrichtung in Tübingen, in 1931 eine Grabung durchgeführt hat. Da gibt es sehr genaue Beschreibungen von seinen Grabungsaktivitäten, vor allem in einer Monographie, die 1934 veröffentlicht wurde, stehen Sätze wie "am 22. Juli war ich persönlich dabei, als aus dieser Schicht Menschenknochen geborgen wurden, im Beisein von verschiedenen anderen".

    Niemand hatte die Beschreibungen bezweifelt, nach denen Schnitzereien und Knochen gleich alt waren und aus dem "Aurignacien" stammen, also einer Epoche zwischen 30.- und 36.000 Jahren vor heute. Nun wandert diese Vorstellung in den "Papierkorb" der Ur- und Frühgeschichte. Denn die absolute Datierung der Schädel beweist etwas anderes:

    In Zusammenarbeit mit Kollegen in Kiel und in Chicago haben wir die Funde datiert und festgestellt, dass die neolithisch sind, C-14 ca. 5000 Jahre alt und haben überhaupt keine Relevanz. Damit sind eine ganze Reihe von neuen Fragen aufgekommen, und vor allem ist es nicht mehr eindeutig klar, dass modernen Menschen überhaupt das frühe Aurignacien in unserer Region produziert haben.

    Ein Problem, das die Schwaben mit anderen teilen. Mit den modernen Datierungen brach ein Fossil nach dem anderen weg, das den direkten Zusammenhang von modernen Menschen und Kunst belegen sollte. Selbst der berühmte Cro-Magnon-Mensch wurde nur im Höhlenlehm beerdigt - genau wie die beiden vom Vogelherd. Sicher ist heute lediglich:

    Das Aurignacien ist bestimmt eine Zeit, wo figürlicher Kunst über große geographische Räume entstanden ist. Im Aurignacien, da ist es ganz klar, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die kulturelle Fähigkeit hatten wie wir.

    Nur - welcher Mensch war es? Homo sapiens sapiens - oder homo sapiens neanderthalensis? Theoretisch ist beides möglich - denn auch die Neanderthaler waren begabt und flexibel. Conard:

    Deswegen ist es eine sehr spannende Sache, dass die Vogelherd-Menschenreste wesentlich jünger sind, als erwartet.

    Bislang galt: Die modernen Menschen wanderten aus Afrika aus und gelangten über Asien nach Europa, wo sie sich vor mehr als 30.000 Jahren in französische, norditalienische und schwäbische Höhlen setzten und die figürliche Kunst erfanden. Aufgrund der neuen Fakten könnte es nun auch sein, dass die Neanderthaler in ihrer späten Entwicklung an langen Winterabenden die Kunst erdacht haben. Für eine eindeutige Antwort fehlen derzeit die Fossilien, was wohl daran liegt, dass beide Menschenarten damals ihre Angehörigen nicht beerdigten, sondern anders bestattet haben. Allerdings, die frühe Kunst ist so ausgefeilt, dass sie nicht spontan entstanden sein kann. Es muss Vorläufer gegeben haben, aber:

    Kunst, die aus Federn, aus Holz, aus etlichen anderen Substanzen hergestellt worden sind, werden wir niemals finden, wenn wir eine Körperbemalung haben, oder mit Narben etwas darstellen, haben wir keine Chance, das zu finden. Und wir wissen auch, dass man eine extrem komplexe kulturelle Vermögen haben kann, aber dennoch eine relativ einfache materielle Kultur haben kann.

    So etwas wird man kaum finden, deshalb kann man für keine der beiden Menschenarten ausschließen, dass sie Kunst entwickelt haben. Conard:

    Ich persönlich fände es klasse, wenn die Neanderthaler diese frühen Kunstwerke hergestellt haben, ich würde nicht so weit gehen, ich halte es für tendenziell unwahrscheinlich, aber momentan müssen wir festhalten, dass wir es nicht wissen.

    Denn es ist zwar erwiesen, dass die späten Neanderthaler Schmuck herstellten. Aber die Mengen sind klein im Vergleich zu dem, was man einige Zeit später von den modernen Menschen findet. Aber das ist nicht mehr als ein Hinweis, der auch in die Irre leiten könnte. Die Suche nach den Beweisen ist jetzt eröffnet.